Hallgrímur Helgason: "Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen"
"Der
isländische Sommer ist wie ein Kühlschrank, den man
sechs Wochen offen lässt. Das Licht ist die ganze Zeit an, und
das Gefrierfach taut, aber richtig warm wird es nie."
Hallgrímur Helgason ist einer der zahlreichen hervorragenden
Schriftsteller, welche die nordische Insel Island mit ihren gerade
einmal 320 000 Einwohnern in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht
hat. Unter ihnen ist er vielleicht der schillerndste und vielseitigste
Künstler, denn er schreibt nicht nur Romane, sondern arbeitet
nach Ausbildungen an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe
in Reykjavík und der Kunstakademie in München auch
als bildender Künstler.
In dem vorliegenden Roman, der auch im Original jenen ebenso seltsamen
wie langen Titel trägt, erzählt der Autor die
Geschichte des kroatischen Auftragsmörders Toxic. Toxic hat,
so wird im Lauf der Handlung deutlich, während des
Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien viele Serben
getötet, auch Frauen und Kinder. Nach Kriegsende kann er
nichts Anderes mehr und wird Auftragsmörder. 66 Morde auf
Bestellung hat er bisher begangen, und er kann sich im Verlauf des
Buches an jeden einzelnen - nummeriert - erinnern. Auf manche ist er
stolz; andere, wenn auch nur wenige, wären fast
schiefgegangen.
Als er eines Tages in New York auf dem Flughafen auf seinen Flug nach
Zagreb wartet, wo der nächste Auftrag ausgeführt
werden soll, sieht er, dass er von zwei FBI-Agenten erwartet wird. Er
flüchtet in die Toilette und tötet dort einen Mann,
um sich nicht nur mit dessen Kleidung, sondern auch mit dessen
Identität und Papieren auszustatten. Der Mann, den er
umgebracht hat, heißt Father Friendly, ein frommer Priester
auf dem Weg nach Island, wo er von seinen Glaubensbrüdern
sehnlich erwartet wird.
Toxic zeigt auch jetzt seine außergewöhnlichen
Fähigkeiten zur Anpassung und Verstellung, die ihm schon so
oft das Leben gerettet haben. Er fliegt nach Island und gibt sich, mit
einigen sprachlichen und theologischen Patzern zunächst, dann
aber immer sicherer in seiner neuen Rolle werdend, als jener Priester
aus, dessen Leben er ausgelöscht hat.
In einer wunderbaren Komödie voll schwarzen Humors beschreibt
Hallgrímur Helgason sein Heimatland im Nordmeer und seine
oft skurrilen Bewohner. Man kann durchaus davon ausgehen, dass es
für die Protagonisten tatsächliche Vorbilder gibt und
jener Fernsehkanal des isländischen Gastgebers von Father
Friendly eine Kopie in der Realität dort hat.
Gleichzeitig ist es ein trauriger Rückblick auf jenen
ethnisch-völkermordenden Wahnsinn, der sich da Anfang der
1990er-Jahre in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien
abgespielt hat.
Ein Buch, das sich in einem Zug liest, das einen einmal laut zum Lachen
bringt und es einem dann wieder im Hals stecken bleiben lässt.
Eine rabenschwarze Komödie und wahrscheinlich das bisher beste
Buch Helgasons, das von dem Münchner Schriftsteller Kristof
Magnusson kongenial übersetzt wurde. Er selbst hat etwa
zeitgleich unter dem Titel: "Das war ich nicht" einen interessanten
Roman über die Finanzkrise bei Kunstmann vorgelegt.
(Winfried Stanzick)
Hallgrímur Helgason: "Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu
beginnen"
Aus dem Isländischen von Kristof Magnusson.
dtv, 2011. 271 Seiten.
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Hallgrímur
Helgason, 1959 in
Reykjavík geboren, nach dem Studium an der Hochschule
für Kunst und
Kunstgewerbe in Reykjavík, besuchte er ein Jahr die
Kunstakademie in München.
Seit 1982 arbeitet er als Autor und bildender Künstler in
seiner Heimatstadt.
Sein erster Roman erschien 1990. Den internationalen Durchbruch brachte
ihm 1996
"101
Reykjavík", der kurze Zeit später auch
verfilmt wurde, ebenso sein
Roman "Rokland":
"Rokland"
Schlechter kann es für Böddi nicht laufen. Erst
fliegt er als Lehrer, dann erfährt
er, dass er gerade der Tochter seines ehemaligen Rektors ein Kind
gemacht hat. Dann verliert er nach dem Tod der Mutter auch noch sein Elternhaus. Das
reicht, um durchzudrehen: Böddi steigt auf sein Pferd
und bricht zu einem Amokritt in
die Hauptstadt auf. In Reykjavík ruft er zum allgemeinen
Umsturz der Lebensverhältnisse
auf, doch hinter seinem Rücken vermarktet ihn der eigene
Bruder schon in den
Medien ...
"Rokland" ist als literarische Gesellschaftssatire eine konsequente
Fortsetzung der beiden vorangegangenen Romane von Hallgrímur
Helgason. Der isländische
Don Quijote des 21. Jahrhunderts kämpft allerdings nicht gegen
Windmühlen,
sondern gegen
die Allgegenwart des Fernsehens und die allgemeine
Verflachung und
Verblödung
seiner Landsleute. (Klett-Cotta)
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Weitere
Buchtipps:
Einar Már Gudmundsson: "Wie man ein Land in den Abgrund führt. Die Geschichte von Islands Ruin"
Mit der Finanzkrise brach Islands heile Welt zusammen. Banken wurden verstaatlicht, der Staat selbst stand kurz vor dem Bankrott. Einar Már Gudmundsson sah den plötzlichen Reichtum seiner Landsleute von Anfang an mit Misstrauen. In einer glänzenden literarischen Polemik rechnet er jetzt mit jenen Gestalten ab, die sich von der Politik verabschiedeten, nur noch vom Tinnef neureicher Millionäre träumten und das Schicksal einer ganzen Gesellschaft den Kräften des Marktes anvertrauten. Gudmundssons zornige Abrechnung liefert die Argumente gegen alle, die nichts lernen wollen. Denn die kleine Insel Island liegt nicht irgendwo, Island ist eigentlich überall. (Hanser)
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Arnaldur
Indriðason: "Frevelopfer"
In einer Wohnung in Reykjavík wird ein Mannes gefunden - mit
durchschnittener
Kehle. Täter und Opfer scheinen einander gekannt zu haben,
denn nichts weist
auf einen Einbruch hin. Kommissarin Elinborgs Blick fällt auf
einen
Kaschmirschal unter dem Bett, der einen merkwürdigen Geruch
verströmt. Zudem
wird bei dem Opfer ein Narkotikum gefunden. Erlendurs Kollegin ahnt,
dass der
Mord womöglich die Rache für ein brutales Verbrechen
war. Und ihm Freveltaten
vorausgingen, die nie gesühnt werden können ...
(Lübbe)
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Wolfgang Müller: "Neues von der Elfenfront. Die
Wahrheit über Island"
Warum fehlte Island auf den ersten Euro-Scheinen? Wer hat den Staren
von Reykjavík
Kurt Schwitters' "Ursonate" beigebracht? Und stimmt es, dass ein
isländischer
Transsexueller nach der Operation vom Mann zur Frau sofort den
weiblichen,
geringeren Tariflohn erhalten sollte? In 75 Stichworten hinterfragt
Wolfgang Müller
die Klischeebilder von Island und verrät, was es dort abseits
ausgetretener
Touristenpfade zu entdecken gibt: sei es die nördlichste
Pizzeria der Welt, die
größte Schönheitsköniginnen- und
Nobelpreisträgerdichte oder die Einsicht,
dass sich die Deutschen auf Island zu allen Zeiten immer selbst gesucht
haben
und dass, wer anders auf die Insel blickt, auch Deutschland anders
wahrnimmt: Elfenspuren etwa finden sich, wenn man sie lesen kann, auch in
Berlin ... (Suhrkamp)
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Zwei weitere Bücher von Hallgrímur Helgason:
"Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein"
Wie in einem bunten Kaleidoskop wirbelt ein ganzes Jahrhundert vorbei - der Fokus ist die nördliche Insel zwischen Amerika und Europa, in ihm erkennt man die Welt und den Beginn einer neuen Zeit.
Ein Kind findet den reglosen Greis nahe dem einsamen Schafhof seines Vaters. Gastfreundschaft ist in Island heilig, daher nimmt der wortkarge Viehbauer den Findling auf. Allmählich kommen dem Greis Erinnerungsfetzen: Ihm scheint, er kennte diese Leute, diesen armseligen Hof. Die Gespräche klingen seltsam vertraut, oft zu intim, auch hölzern oder sogar peinlich. Erst als der Alte zu seinem Entsetzen merkt, dass er offenbar vierzig Jahre in die Vergangenheit versetzt wurde, wird ihm klar, wo er ist. Und wer er ist: der berühmteste Schriftsteller Islands. Er ist offensichtlich in einem seiner Romane aufgewacht. Und der Ort, an dem er sich befindet, trägt den vielsagenden Namen Höllental. Und für Einar Grímsson beginnt in der Tat seine private Hölle. Hilflos muss er mitanhören, was er sich vor vierzig Jahren ausgedacht hat.
Die Zeitreise zwingt ihn, sein Leben von Grund auf zu überdenken - seine Verehrung Stalins, seine Feigheit, seine egoistischen Eitelkeiten, sein jährliches Warten auf den Nobelpreis, seine Unfähigkeit zur Liebe. (Klett-Cotta)
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"Seekrank in München"
Von einer märchenhaften Insel im Norden kommt ein junger Mann, um in
München
Malerei zu studieren. Er kennt weder Lokale noch Bier, aber er weiß genau, was
er werden möchte: Künstler. Fast krank vor Schüchternheit muss sich der Student,
ohne ein Wort Deutsch zu können, durchschlagen. Auch an der Kunstakademie bleibt
er zunächst ein Außenseiter, denn mit den neuen Wilden kann er wenig anfangen.
Und auch die Welt draußen ist viel kälter, als es auf Island je werden kann.
Der
Kalte Krieg ist auf seinem Höhepunkt, und so wacht er jeden Morgen mit der Sorge
auf, dass der Dritte Weltkrieg bereits begonnen hat. Und dann stellt sich auch
noch heraus, dass er eine überaus seltsame Gabe hat, die ihn nicht gerade
appetitlich macht.
Helgasons Held ist so wie sein Autor: schräg, voller Witz und wunderbar
unangepasst. (Tropen)
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