Thomas Glavinic: "Die Arbeit der Nacht"


ALLEIN und NIEMAND

Thomas Glavinic erkundet, was der Mensch ist, wenn keine Menschen, ja keine Lebewesen mehr da sind und findet heraus, dass fortschreitende Langsamkeit töten kann.

"Vielleicht hatte er eine Prüfung zu bestehen. Einen Test, in dem es eine korrekte Antwort gab. Eine richtige Reaktion, die ihn aus seiner Lage erlöste. Ein Passwort, ein Sesamöffnedich, eine Mail an Gott. (...) Irgendwo gab es eine Antwort, musste es eine geben. Die Welt draußen war groß. Er war nur er. Die Antwort draußen würde er vielleicht nicht finden können. Aber jene an ihm und in ihm, nach der musste er suchen. Immer weiter." Jonas, 34-jähriger Wiener, wacht eines Morgens auf und stellt fest, dass da niemand mehr ist, keine Frau neben ihm im Bett, kein Mensch an der Bushaltestelle, auch keiner im Supermarkt oder sonst irgendwo. Ganz Wien, Österreich und auch der Rest der Welt ist bar jeglichen menschlichen, ja tierischen Lebens. Was er sich manchmal in seine Träumen vorstellte, scheint eingetroffen zu sein: "Er hatte ein Überlebender sein wollen. Ein Auserwählter hatte er sein wollen. Der war er jetzt."

Nur, was bleibt, wenn kein Anderer mehr da ist? Was macht man mit sich und seinem Selbst? Glavinic lotet die großen Fragen der Philosophie aus: Woher weiß ich, wer ich bin? Was ist mein Unterbewusstsein? Brauchen wir andere Menschen? Hat das Leben einen Sinn? Was ist ein glückliches Leben? Wie lange ist die eigene Identität eigentlich haltbar? Wie verändert sich die Realität ohne Zuschauer? Gibt es die Zeit dann noch? Was bedeutet der Tod ohne Nachwelt? Haben diese Fragen noch eine Bedeutung, wenn nichts mehr bleibt außer der Stille, den Dingen, unendlich viel Zeit und den eigenen Träumen? Letztere werden mit zunehmendem Handlungsverlauf immer größere und beängstigendere Bedeutung erlangen. Sie offenbaren eine nahezu schizophrene Reise ins eigene Unterbewusstsein.

Weg durch die Stille
Doch zunächst stürzt sich Jonas in panischen Aktionismus, durchkreuzt die Stadt, fährt zur Wohnung seines Vaters, zum Bahnhof und Flughafen, schlendert durch den Prater, besteigt den Donauturm, reist durch Teile Europas. Er platziert Hilferufe an markanten Stellen, hinterlässt überall seine Mobiltelefonnummer, schreibt sich selbst Postkarten. Aber es bleibt dabei: Keiner da und auch keine Erklärung für das Verschwinden der gesamten Menschheit. "Da war nichts. Keine davoneilenden Schritte, kein Räuspern, kein Atem. Nichts."

Auf fast 400 Seiten begleitet der Leser den einzigen Protagonisten auf seinem Weg durch die Stille. Was anfangs vielleicht noch als Erlösung empfunden wird, weicht einer zunehmenden Bedrücktheit. Die Sprache ist mit einem Mal unwichtig, verkümmert bis auf wenige nichtssagende Floskeln, Worte - von Jonas wahllos auf Zettel geschrieben - sollen zum Aktionismus, zum tätigen Handeln aufrufen. Immer mehr Erinnerungen tauchen aus seinem Innersten an die Oberfläche, Gedanken über den Tod und den Sinn des Lebens. Augenblicke werden mit unglaublicher Deutlichkeit und geschärftem Bewusstsein wahrgenommen: "Würde in hundert Jahren jemand den Tag wahrnehmen? War jemand da, der durch die Landschaft spazierte und an Goethe und Jonas dachte? Oder würde der Tag Tag sein ohne Beobachtung, seiner reinen Existenz überlassen? Und - war es dann noch ein Tag? Gab es etwas Sinnloseres als so einen Tag? Was war die Mona Lisa an so einem Tag?!"

Das Nachdenken über sein Ich gewinnt zunehmend an Bedeutung. "Er hatte den Eindruck, dass etwas begonnen hatte. Verschiedene Konstanten der Wahrnehmung, wie Raum, Materie, Luft, Zeit, schienen sich miteinander zu verbinden. Alles floss ineinander. Wurde zäh. (...) Alles konnte, nichts musste Bedeutung haben." Jonas versucht normal zu bleiben. Aber wie soll ihm das gelingen, wenn keine Reflektionen mehr stattfinden, kein Gegenüber mit ihm kommuniziert? Vielleicht durch Selbstbeobachtung? Er filmt sich nachts mit einer Videokamera und betrachtet am nächsten Tag das Bildmaterial. Doch der sogenannte "Schläfer" - wie er sein ruhendes Ich bezeichnet - flößt ihm mehr und mehr Angst ein und ergreift zunehmend nahezu psychotischen Besitz von ihm. Langsam verliert er dadurch die Kontrolle über sich selbst und seine Handlungen.

Magischer, alptraumhafter Sog
Letztendlich ist Jonas gefangen in einem Wachtraum, in einer Art Zwischenwelt, "in der er träumte und ging, träumte und sah, träumte und handelte. Er nahm Geräusche und Bilder wahr. Er roch das Meer. Er las Aufschriften, die sich im nächsten Moment in Erinnerungsfetzen verwandelten, in Trauminhalte, ja in Lieder, die ihm ins Ohr gesungen wurden. Manches behielt er länger, kämpfte damit, verzweifelte daran. Anderes, Abstrakteres, war so kurz da, dass er bezweifelte, es erlebt zu haben." Aber eine Frage kann er nun beantworten, nämlich die, was Glück sein kann: "Glück. das war auch, als kleines Kind im Kinderwagen umhergeschoben zu werden. Den Erwachsenen zuzusehen, ihren Stimmen zu lauschen, viele neue Dinge zu bestaunen, begrüßt und angelächelt zu werden von fremden Gesichtern. Dazusitzen und zugleich zu fahren, etwas Süßes in der Hand und die Beine von der Sonne gewärmt zu bekommen. Und vielleicht einem anderen Kinderwagen zu begegnen, dem Mädchen mit Locken, und aneinander vorbeigeschoben zu werden und sich zuzuwinken und zu wissen, das ist sie, das ist sie, das ist die, die man lieben wird."

Thomas Glavinic versteht es faszinierend mit seiner knappen, klaren Sprache, auch ohne seinen Protagonisten mit emotionaler Überschwänglichkeit auszustatten, ein Gefühl der Angst, des unterschwelligen Grauens, der Beklemmung und der spitznadeligen Reflexion zu erzeugen. Auf beeindruckende Art und Weise bewirkt der Roman einen fast magischen, alptraumhaften Sog, dem sich der Leser kaum entziehen kann. Mit minimalen Stilmitteln bringt der Autor universelle menschliche Ängste zum Klingen.

Thomas Glavinic stellt sich in seinem eindringlichen, suggestiven, existenzialistischen Roman die beängstigende Frage: "Kann man es ertragen, mit sich allein zu sein? Kann man sich an sich selbst festhalten?" Ein Buch über die Einsamkeit, den Wahnsinn, die Nacht, das Schweigen und die Frage: Was ist der Mensch?

(Heike Geilen; 07/2009)


Thomas Glavinic: "Die Arbeit der Nacht"
Gebundene Ausgabe:
Hanser,  2006. 395 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2008. 400 Seiten.
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Hörbuchausgabe:
Sprecher: Heikko Deutschmann (gekürzte Lesung):
Hörbuch Hamburg, 2007. 6 CDs.
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Leseprobe:

"Guten Morgen!" rief er in die Wohnküche. Er trug das Frühstücksgeschirr zum Tisch, nebenbei drehte er den Fernseher auf. An Marie schickte er eine SMS. Gut geschlafen? Habe von dir geträumt. Dann festgestellt, daß ich wach war. I. l. d. Der Bildschirm flimmerte. Er schaltete von ORF zu ARD. Kein Bild. Er zappte zu ZDF, RTL, 3sat, RAI: Flimmern. Der Wiener Lokalsender: Flimmern. CNN: Flimmern. Der französische, der türkische Sender: kein Empfang. Vor der Tür lag statt des Kurier auf dem Fußabstreifer nur ein alter Reklamezettel, den er aus Faulheit noch nicht entfernt hatte. Kopfschüttelnd zog er aus dem Stapel im Flur eine Zeitschrift der Vorwoche und kehrte zu seinem Kaffee zurück. Abonnement kündigen, notierte er im Geist. Schon vergangenen Monat hatte er einmal keine Zeitung bekommen. Er blickte sich im Zimmer um. Über den Boden verstreut lagen Hemden, Hosen und Strümpfe. Auf der Anrichte stand das Geschirr vom Vorabend. Der Müll roch. Jonas verzog das Gesicht. Er sehnte sich nach ein paar Tagen am Meer. Er hätte Marie begleiten sollen. Trotz seiner Abneigung gegen Verwandtschaftsbesuche. Als er sich noch eine Scheibe Brot abschneiden wollte, glitt das Messer ab und fuhr ihm tief in den Finger. "Mist! Ah! Da soll doch..." Mit zusammengebissenen Zähnen hielt er die Hand unter kaltes Wasser, bis kein Blut mehr nachfloß. Er untersuchte die Wunde. Der Schnitt war bis auf den Knochen gegangen, schien jedoch keine Sehne verletzt zu haben. Auch Schmerzen fühlte Jonas nicht. In seinem Finger klaffte ein sauberes Loch, und er konnte den Knochen sehen. Ihm wurde flau zumute. Er atmete tief durch. Was er da sah, hatte noch nie ein Mensch gesehen. Auch nicht er selbst. Er lebte mit diesem Finger seit fünfunddreißig Jahren, doch wie es im Inneren aussah, wußte er nicht. Er wußte nicht, wie sein Herz aussah oder seine Milz. Nicht, daß er besonders neugierig darauf gewesen wäre, im Gegenteil. Aber unzweifelhaft war dieser blanke Knochen ein Teil von ihm. Den er erst heute sah. Nachdem er den Finger verbunden und den Tisch abgewischt hatte, war ihm der Appetit vergangen. Er setzte sich an den Computer, um Mails abzurufen und die Weltnachrichten zu überfliegen. Die Startseite des Browsers war die Homepage von Yahoo. Statt dessen erschien eine ServererrorMeldung.
"Ja Himmeldonnerwetter noch einmal!" Da ihm noch Zeit blieb, wählte er die Nummer von Telekabel. Das Band, das Anrufer weitervermittelte, schaltete sich nicht ein. Er ließ es lang läuten. An der Bushaltestelle entnahm er dem Aktenkoffer die Wochenendbeilage der Zeitung, für die er an den Tagen zuvor keine Zeit gehabt hatte. Die Morgensonne blendete ihn. Er suchte in den Jackentaschen, doch dann erinnerte er sich, daß die Sonnenbrille auf dem Garderobenkästchen lag. Er sah nach, ob Marie schon zurückgeschrieben hatte. Er nahm die Zeitung wieder auf und blätterte zu den SchönerwohnenSeiten. Es fiel ihm schwer, sich auf den Artikel zu konzentrieren. Etwas irritierte ihn. Nach einer Weile merkte er, daß er wieder und wieder denselben Satz las, ohne den Inhalt aufzunehmen. Die Zeitung unter den Arm geklemmt, machte er ein paar Schritte. Als er den Kopf hob, stellte er fest, daß außer ihm niemand zu sehen war. Daß kein Mensch da war und daß keine Autos fuhren. Ein Scherz, kam ihm in den Sinn. Und: Es muß Feiertag sein. Ja, das erklärte einiges: ein Feiertag. An einem Feiertag lassen sich die Techniker von Telekabel mehr Zeit, um eine defekte Leitung zu reparieren. Und die Busse fahren in längeren Intervallen. Und es sind weniger Leute auf der Straße. Bloß war der 4. Juli kein Feiertag. Jedenfalls nicht in Österreich. Er lief zum Supermarkt an der Ecke. Geschlossen. Er legte die Stirn gegen die Scheibe und beschattete die Augen mit den Händen. Niemand zu sehen. Also doch Feiertag. Oder ein Streik, dessen Ankündigung er verpaßt hatte. Während er wieder auf die Haltestelle zuging, blickte er sich um, ob der 39A nicht doch um die Ecke bog. Er rief Maries Mobiltelefon an. Sie meldete sich nicht. Nicht einmal das Band schaltete sich ein. Er wählte die Nummer seines Vaters. Auch der meldete sich nicht. Er versuchte es im Büro. Niemand hob ab.
Weder Werner noch Anne waren zu erreichen. Verwirrt steckte er das Telefon in die Sakkotasche. In diesem Moment wurde ihm bewußt, daß es vollkommen still war. Er ging zurück in die Wohnung. Er schaltete den Fernseher ein. Flimmern. Er schaltete den Computer ein. Server error. Er schaltete das Radio ein. Rauschen. Er setzte sich auf die Couch. Er konnte keine Ordnung in seine Gedanken bringen. Seine Hände waren feucht. Von einem fleckigen Zettel an der Pinnwand las er Zahlen ab, die Marie ihm schon vor Jahren notiert hatte. Die Nummer ihrer Schwester, die sie in England besuchte. Er wählte. Das Läuten klang anders als bei Anrufen in Österreich. Tiefer, und jedes Läuten bestand aus zwei kurzen Tönen. Nachdem er diese zum zehntenmal gehört hatte, legte er auf. Als er wieder aus dem Haus trat, linste er nach links und rechts. Auf dem Weg zum Auto hielt er sich nicht auf. Ein paarmal blickte er über die Schulter zurück. Er blieb stehen und horchte. Da war nichts. Keine davoneilenden Schritte, kein Räuspern, kein Atem. Nichts. Die Luft im Inneren des Toyota war stickig. Das Lenkrad war heiß, und er konnte es nur mit den Handballen und mit dem verbundenen Zeigefinger berühren. Er kurbelte das Fenster herunter. Draußen war nichts zu hören. Er knipste das Radio an. Rauschen. Auf allen Kanälen. Er fuhr über die leere Heiligenstädter Brücke, auf der die Autos gewöhnlich dicht an dicht standen, und nahm die Lände stadteinwärts. Er hielt nach Leben Ausschau. Oder wenigstens nach einem Zeichen, das ihm verriet, was hier geschehen war. Aber alles, was er sah, waren abgestellte Autos.
Geparkt ganz vorschriftsmäßig, als seien ihre Besitzer nur für einen Moment in einen Hausflur verschwunden. Er kniff sich in die Beine. Kratzte sich die Wangen. "Hey! Hallo!" Am FranzJosefKai wurde er von einem Radarkasten geblitzt. Weil ihm die höhere Geschwindigkeit Sicherheit verlieh, fuhr er über siebzig. Er bog in die Ringstraße ein, die das Zentrum Wiens von den anderen Bezirken trennt, und beschleunigte weiter. Am Schwarzenbergplatz erwog er, anzuhalten und ins Büro hinaufzulaufen. Mit neunzig ging es vorbei an der Oper, am Burggarten, an der Hofburg. Im letzten Moment bremste er und fuhr durch das Tor auf den Heldenplatz. Weit und breit kein Mensch. An einer roten Ampel blieb er mit quietschenden Reifen stehen. Er stellte die Zündung ab. Nichts als das Knistern unter der Motorhaube war zu vernehmen. Er fuhr sich durchs Haar. Er wischte sich die Stirn ab. Er verschränkte die Hände ineinander und ließ die Fingerknochen knacken. Plötzlich fiel ihm auf, daß nicht einmal Vögel zu sehen waren. In hohem Tempo umrundete er den ersten Bezirk, bis er wieder am Schwarzenbergplatz ankam. Er bog rechts ab. Kurz nach der nächsten Ecke hielt er. Im zweiten Stock dieses Hauses lag die Firma Schmidt. Nach allen Seiten sah er sich um. Er blieb stehen, horchte. Er lief ein paar Meter vor zur Kreuzung. Spähte in die umliegenden Straßen. Geparkte Autos. Sonst nichts. (...)

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