Elaine Pagels, Karen L. King: "Das Evangelium des Verräters"

Judas und der Kampf um das wahre Christentum


Das Judas-Evangelium galt als verschollen, ehe es im Jahre 1978 in Mittelägypten überraschend gefunden wurde. Eine wissenschaftliche Untersuchung verzögerte sich bis 2002, und erst 2006 wurde eine erste Übersetzung des Textes von "National Geographic" weltweit im Fernsehen übertragen.

Der Codex Tchacos zerbröselte zum Teil auch wegen der unsachgemäßen Behandlung, die ihm widerfuhr. Davon zeugt eine siebzehnjährige Existenz in einem feuchten Bankschließfach in Hicksville, New York, und später wurde er sogar eingefroren. Leider ist es also nicht möglich, den gesamten Text des Judas-Evangeliums zu entziffern, sodass die Autorinnen des vorliegenden Buches auch den Versuch unternahmen, Leerstellen sinngemäß in einen Kontext zu den erhaltenen Textstellen zu bringen. Sind es manchmal nur ein oder zwei Worte, die fehlen, so verhält es sich nicht selten so, dass längere Passagen für immer verloren sind. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Geschwindigkeit Interpretationen eines bruchstückhaften Textes vollzogen worden sind.

Aufgrund der Unvollständigkeit mag es für den Leser des Judas-Evangeliums fast unmöglich sein, spezifische Erkenntnisse daraus abzuleiten. Elaine Pagels und Karen L. King obliegt es, mit hintergründigen Aspekten zu jonglieren und damit ein Bild zu konzipieren, das vielleicht mehr im Licht als im Schatten liegen mag.

Was dieses Evangelium von den anderen apokryphen Schriften unterscheidet, die nicht in den Kanon der Bibel aufgenommen wurden, sind zwei Faktoren, bei denen nicht nur Theologen Erstaunen bekunden könnten: Zum Einen wird Judas als der Lieblingsjünger von Jesus dargestellt, der seinen Herrn "verraten musste", sodass die "Weltordnung" zurechtgerückt werden mochte. Zum Anderen werden der Opfertod Jesu und das Martyrium von zahlreichen sich als Christen bekennenden Gläubigen auf ungewöhnliche Weise beleuchtet.

Judas wird als von den anderen Aposteln abgegrenzter "Lieblingsjünger" mit Geheimnissen betraut, die nur ihm zuteil werden sollen. In den vier im Kanon enthaltenen Evangelien wird die Figur Judas eher differenziert beleuchtet. Warum er den Verrat beging, wie er zu seinem Herrn konkret stand, welche Beziehungen er zu den anderen Jüngern hatte, wird spezifisch beschrieben, und ist freilich - hier - nicht Gegenstand unseres Interesses. Es ist der Zusammenhang zwischen dem Opfertod Jesu und dem Verrat, der insbesondere im Judas-Evangelium zur Sprache kommt. Wollte Jesus tatsächlich, dass Judas ihn verrät? Wusste er, dass sein "Lieblingsjünger" für diesen Verrat "vorrangig" in Frage kommen musste?

Der Autor des Judas-Evangeliums war ebensowenig Judas selbst wie sonst irgendein Evangelium von jener Person geschrieben worden ist, die ihr zugeordnet wurde. Besonders muss diesbezüglich auf das Johannes-Evangelium hingewiesen werden, das von der (katholischen) Kirche vereinnahmt wurde, um insbesondere auch den Opfertod Christi als Ereignis zu beschreiben, durch das die "Sünden der Welt" für immer und ewig getilgt seien.

Nein, von wem dieses Judas-Evangelium geschrieben wurde, kann nicht einmal vermutet werden. Jedenfalls muss es ein Mensch gewesen sein, der es fragwürdig fand, dass sich Menschen zu Märtyrern erklärten, die "gerne" geopfert werden wollten, um schließlich - wie Jesus selbst - in den Himmel aufzusteigen.

Der Opfertod Jesu muss von ihm vorausgesehen worden sein, und er hat sich also absichtlich dieser grauenhaften Angelegenheit ausgesetzt, da er es als seinen Dienst ansah, hiermit die "Menschheit zu retten". Wer einem Kind diesen Opfertod als wesentlichstes Merkmal des Christentums "verkauft" und die damit einhergehende "Tilgung aller Schuld" aller Menschen, der wird kaum auf Verständnis stoßen. Die Reduktion des Christ-Seins auf die Erkenntnis, dass der Opfertod Jesu jeden Menschen von Schuld gereinigt habe, ist irgendwie eine eindimensionale Vorstellung, der wahrscheinlich auch die wenigsten Menschen anhängen. Ja, und auch Judas kann durchaus der Meinung gewesen sein, dass dieser Opfertod nicht der Anfang und das Ende der Bedeutung einer neu entstehenden religiösen Bewegung war, die vielerorts als "Sekte" verunglimpft wurde, was zahlreiche Todesopfer nach sich zog. Zwar kann sich kein Mensch selbst erlösen, doch ist es Irrsinn, das mit immensen Qualen einhergehende Sterben von Jesus mit einer Bedeutung aufzuladen, die letzthin sogar dahin führt, dass Jesus seinen Tod durch den Verrat seines "Lieblingsjüngers" Judas heraufbeschworen haben soll.

Viele Textstellen des Judas-Evangeliums wirken provokant. Der Autor, so meinen Elaine Pagels und Karen L. King, muss einen immensen Ärger in sich verspürt haben, der sich mit Hasstiraden auf Menschen Luft verschaffte, die meinten, ihr Martyrium sei ebenso bedeutsam wie jenes von Jesus und sie erführen somit die gleiche "Belohnung" im Sinne von "Himmelfahrt" wie Jesus selbst.

Es bleibt die Frage, ob das Judas-Evangelium tatsächlich ein neues Kapitel aufschlägt, was die Anfänge des Christentums und damit zusammenhängende Interessenskonflikte bzw. spezifische Ansichten diverser christlicher Splittergruppen betrifft. Ja, es mag durchaus sein, dass auch das Judas-Evangelium vorgelesen wurde, um manchem Ur-Christen ein besonderes Beispiel für lebendigen Glauben vorzustellen. Weitaus gehaltvoller und tiefgründiger als das Judas-Evangelium erweist sich für den Rezensenten das Thomas-Evangelium, was aber auch daran liegt, dass es zum Großteil erhalten geblieben ist. Das Judas-Evangelium ist sicher sehr stark auf Interpretationen angewiesen, und die Bruchstückhaftigkeit mag sich für manchen Leser als Stolperstein erweisen, der einen tiefgründigeren Zugang verunmöglicht. Den Autorinnen des vorliegenden Buches ist es gelungen, wichtige Komponenten darzustellen, welche in unmittelbaren Zusammenhängen zu anderen apokryphen Texten stehen bzw. das Frühchristentum in Beziehung zur Bedeutsamkeit des Opfertodes Christi stellen. Ob es glaubhaft ist, dass Jesus seinen Opfertod herausgefordert hat, weil er Judas zum Verrat "anstiftete", muss jeder Leser und jeder Gläubige für sich entscheiden.

(Jürgen Heimlich; 02/2008)


Elaine Pagels, Karen L. King: "Das Evangelium des Verräters. Judas und der Kampf um das wahre Christentum"
Übersetzt von Rita Seuß.
Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2008. 205 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 208 Seiten.
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Prof. Dr. Karen L. King, Professorin für Kirchengeschichte an der Harvard Divinity School, gehört weltweit zu den besten Kennern der frühchristlichen Schriften.