Ivan Ivanji: "Geister aus einer kleinen Stadt"


"Das Leben ist doch schön, oder nicht?"

Warum hinterfragt Ivan Ivanji diese Aussage in seinem Buch "Geister aus einer kleinen Stadt"? Natürlich ist das Leben schön, möchte man sofort antworten. Doch der Autor hat es von einer anderen Seite - einer tiefschwarzen - erlebt. Als Sohn einer jüdischen Ärztefamilie aus dem Banat, einer historischen Region im Königreich Ungarn, wurde er 1944/45 in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald interniert.
Bei einem Besuch seiner Heimatstadt, als er durch vertraute Gassen schlendert, begegnen ihm die "Geister" seiner toten Mitbürger, Menschen, die umgebracht wurden, weil sie nicht dem "Ideal" einer selbsternannten "Herrenrasse" entsprachen.

"Oh glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!" Diese Worte aus Goethes "Faust" legt der Autor in seinem Roman einem SS-Schergen in den Mund, der zuvor einem Juden eine Lagerumsiedelung vorlog, wohingegen der Einstieg in den Transport-LKW am nächsten Morgen jedoch für ihn, seine Familie und Tausende Andere den Tod bedeutet.
Hoffnung, für viele das Letzte, was noch blieb. Nur für die Wenigsten erfüllte sie sich.

Ein eindringliches, ein schockierendes, aber auch ein liebe- und humorvolles Werk hat Ivan Ivanji geschrieben. Er wirft einen unbestechlichen, mit autobiografischen Linien durchzogenen Blick auf die Vergangenheit seiner Heimat. Im Banat, einer Region zwischen dem heutigen Serbien-Montenegro und Rumänien, hat der Autor seine Handlung angesiedelt. In einem gut lesbaren Stil, mit kurzen Sätzen und Dialogen und einer atmosphärisch dichten, pointierten Sprache behandelt er souverän - wie bereits in seinen letzten Werken (u. a. "Der Aschenmensch von Buchenwald", "Die Tänzerin und der Krieg") - emotionell und politisch stark belastete Themen ohne vordergründige Rache- oder Abrechnungsgelüste.

Eindringlich und schockierend, aber auch liebe- und humorvoll
Er setzt mit seinem Roman seiner Stadt und ihren "Geistern" - den ehemaligen Bewohnern - ein literarisches Denkmal. Ivanji versetzt sich dafür an das Ende der 1930er-Jahre.

"Frieden" hat er sein erstes Kapitel überschrieben. Und wahrlich war man zu dieser Zeit mit sich und aller Welt noch im Reinen. "Dass in Deutschland ein Herr Hitler, der Schäferhunde über alles liebte, angeblich schöne blaue Augen besaß, auf österreichische Weise Damen die Hand küssen konnte und zum Tee Mehlspeisen konsumierte und sich als Antialkoholiker und Vegetarier bezeichnete, an die Macht gekommen war, interessierte in der Stadt am Kanal, der sich stolz Fluss nannte, weder die Hunde noch die Menschen, vorläufig noch nicht einmal die Juden."

Nicht nur die Menschen interessieren den Autor. Jeder Familie stellt er einen oder mehrere treue Gefährten an die Seite: ihre Hunde.
Liebevolle Alltagsgeschichten bestimmen den ersten Teil des Romans. Ivanji betritt Haus um Haus und schaut in die Wohnzimmer. Da sind das jüdische Ärzteehepaar und deren zwei Kinder mit ihrem Zwergpudel Zucki, der Herr Apotheker und Dackel Waldi oder aber der Eisenbahner Atschanski, der zusammen mit seinem Foxterrier im Garten des Herrn Doktor wohnt. Ivanji berichtet über den Holzhändler und seine beiden Doggen, den Herrn Rechtsanwalt mit der schönen Stimme und dessen deutsche Frau, den Zigeunerkönig mit seinem Schäferhund, den Kunsttischler und seinen Boxer oder die Modistin mit ihrem kranken Dalmatiner und ihrem Sohn, dem am Ende des Buches noch eine besondere Rolle zukommt.

Nur die Wenigsten überlebten das Grauen
Eine kunterbunte Melange verschiedenster Nationalitäten lebt hier nebeneinander - oft sogar befreundet. Natürlich kommt es zu allerlei Reibereien - es "menschelt". Die Rasse spielt bei beiden - Hund und Mensch - (noch) eine eher untergeordnete Rolle. Es sind die Klassenunterschiede, die den gemeinsamen Verkehr dirigieren und abgrenzen.

Doch "die menschliche Beziehung ist komplizierter als die Verhältnisse unter den Tieren". Der Krieg erreicht auch diese friedliche Region. Und nichts ist mehr wie es war. "Die ersten Serben werden erschossen, die ersten Juden gehenkt." Was folgt ist schockierend und erschütternd. Nur die Wenigsten überleben das Grauen. "Tatsache ist, dass in meiner Heimatstadt eintausendzweihundertachtundsiebzig Juden interniert worden sind und achtunddreißig überlebt haben. Achtunddreißig", konstatiert der Autor.

"Die Lebenden müssen entscheiden, wie es weitergehen soll. Wie sie leben wollen", schreibt Ivanji - sichtlich bewegt - in seinem dritten und letzten Kapitel mit dem Titel "Frieden nach dem Krieg". "Die Toten haben darauf keinen Einfluss mehr. Oder doch?"

Fazit:
Liebevoll gezeichnete Menschenbilder und Alltagszenen wechseln mit schockierenden und ergreifenden und harten Szenen in "Geister aus einer kleinen Stadt" ab.
Eine eindrucksvolle, eine bewegende Spurensuche auf dem Pfad seiner Kindheit.

(Heike Geilen; 08/2008)


Ivan Ivanji: "Geister aus einer kleinen Stadt"
Picus Verlag, 2008. 199 Seiten.
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Ivan Ivanji wurde am 24. Jänner 1929 als Sohn eines Ärzteehepaars in Zrenjanin im Banat (Jugoslawien) geboren. Nach Kriegsende war er Journalist, Dramaturg, Theaterintendant, Diplomat (Botschaftsrat in Bonn) und Dolmetscher Titos.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Die Tänzerin und der Krieg"
Ein Tanz über Höhen und Abgründe des 20. Jahrhunderts auf dem Balkan.
"Eine schlechte Gewohnheit von all meinen Lieben, dass sie weggegangen und nicht mehr zurückgekommen sind." Der lustige, große Vater, ein Held des Partisanenkriegs, geht eines Tages fort und kehrt nicht wieder. Die Mutter stirbt früh an Tuberkulose, der geliebte Onkel Noah, der Schneckenragout kocht, malt und Märchen erzählt, kommt bei der Befreiung Belgrads im Jahre 1944 ums Leben. Wehmütig und zugleich mit großer analytischer Kraft erzählt Ivan Ivanji die Geschichte des Waisenmädchens Daria, das zur Tänzerin wird. Dabei verknüpft er die Biografie seiner Protagonistin gekonnt mit dem Schicksal ihres Landes: die Jugend im hoffnungsvollen Nachkriegsjugoslawien Titos, mit den Abenden in den Clubs der Partisanenoffiziere oder einem Walzer mit Tito auf dem Neujahrsball, die Tanztournee durch ganz Jugoslawien, auf der Daria zum ersten Mal verwundert erlebt, dass Menschen einander misstrauen, nur weil sie unterschiedlichen Volksgruppen angehören, und schließlich, Jahrzehnte später, ihre abenteuerliche Reise mit einer Hilfssendung nach Sarajewo durch ein vom Krieg erschüttertes Land. Als die Alliierten Belgrad angreifen, reist Daria gemeinsam mit ihrem Mann Peter zurück in ihre Heimatstadt, wo sie erkennen muss, dass die Mittel der Kunst vor der Gewalt des Krieges versagen. (Picus)
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"Wetten am Tor"
Erzählungen
Von der Kunst, auch in den schrecklichen Dingen immer etwas Komisches zu finden.
Ildi ist elf, geschoren und angezogen wie ein Bub. Man sagt, sie sei ein böses, gefühlloses und egoistisches Kind. Dabei will sie nur ihr schönes, erfundenes Leben leben - in Bergen-Belsen, wo sie das Sterben der Anderen scheinbar seltsam unberührt lässt. In ihrer eigenen, zahlenmystisch bestimmten Welt, hält sie sich an ihre Regeln: Im einzigen Buch, das sie besitzt, erlaubt sie sich täglich nur zwei Seiten zu lesen, "und wenn ich es einmal ausgelesen hatte, würde ein Ende sein, so oder so". Ihre Lieblingsbeschäftigung, der sie gemeinsam mit zwei anderen Mädchen nachgeht, ist das "Wetten am Tor". Bei diesem Zeitvertreib wetten die Kinder darauf, welche von den "lebenden Leichen", die täglich den Karren mit den Toten zum Krematorium ziehen, als nächste umfallen und nicht mehr aufstehen wird. Rubi, der Leiter des "Lager-Kabaretts", das aus einer Budapester Kabarett-Truppe samt Publikum und etlichen Geisteskranken aus den verschiedensten Kliniken besteht, ist der einzige Erwachsene, von dem sie sich verstanden fühlt. Von ihm lernt sie, "dass man auch in den schrecklichen Dingen immer etwas Komisches finden müsse. Irgendetwas war immer komisch." (Picus)
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"Der Aschenmensch von Buchenwald"
In der golem-artigen Figur des Aschenmenschen werden Stimmen Ermordeter laut.
Bei Renovierungsarbeiten im Krematorium der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald macht ein Dachdecker im August 1997 einen ungeheuerlichen Fund: 700 Urnen mit der Asche von namenlosen Häftlingen. Erste Ratlosigkeit mündet in dem Beschluss, die Asche der Toten, fünfzig Jahre nach deren Ermordung, in einem Gemeinschaftsgrab beizusetzen. Basierend auf dieser Begebenheit lässt Ivan Ivanji, selbst einst Häftling des KZ Buchenwald, aus den Genen der anonymen Verstorbenen eine neue Gestalt von mythischer Wucht erstehen: den Aschenmenschen von Buchenwald. In ihm verbinden sich dereinst hingerichtete Bibelforscher und Kommunisten, christliche Priester und Juden, Zigeuner und Berufsverbrecher und eine italienische Prinzessin - aber auch ein Lakai Goethes und ein junger Deutscher aus dem russischen Sonderlager zu einem wolkenförmigen Wesen, das hinabsteigt vom Ettersberg nach Weimar. Sind die im Aschenmenschen versammelten Individuen Erinnyen, rachesuchende Seelen Ermordeter? In einem Stimmenkonzert der Toten lässt Ivanji sie zu Wort kommen, ihre Geschichten erzählen, nach Gemeinsamkeiten und Erklärungen suchen. "Seine Absichten hat der Aschenmensch noch nicht formuliert. Weder in Worten noch im lautlosen Plan. Das Wesen, allerdings, das da entstanden ist, beginnt, sein Unwesen zu treiben." (Picus)
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"Das Kinderfräulein"
Ein Roman rund um Schuld und Kollaboration im besetzten Jugoslawien.
Ilse von Bockberg, eine verarmte junge Adelige, tritt auf eine Annonce hin den Posten eines Kinderfräuleins in einer kleinen Stadt im Banat an. Die wohlhabende jüdische Fabrikantenfamilie Keleti nimmt die schüchterne Frau auf, und Ilse kümmert sich pflichtbewusst um das einzige Kind des ungleichen Ehepaares, um den kleinen Viktor. Das Kinderfräulein wird von der jungen Herrin in die Gesellschaft der Stadt eingeführt, wo Deutsche, Juden, Serben und Ungarn harmonisch zusammenleben. Eine schwärmerische Beziehung zu einem Spediteur bringt Ilse in Kontakt mit dem völkisch orientierten deutschen Kulturverein der Kleinstadt. Der Einmarsch der Nazis verändert alles: Direktor Keleti wird in den ersten Stunden nach der Machtübernahme ermordet. Um ihren Schützling, den kleinen Viktor zu retten, wird Ilse Sekretärin des örtlichen Gestapochefs. Viktor und seine Mutter werden nach Ungarn abgeschoben, später allerdings von dort nach Auschwitz verbracht. Ilse flieht nicht rechtzeitig mit den abziehenden Deutschen. Der serbische Untersuchungsrichter, der sie als Kriegsverbrecherin verhört, ist der ehemalige Chauffeur der Keletis und rettet sie insofern, als er sie mit anonymen Deutschen in ein Lager abschiebt. Fast fünfzig Jahre später trifft Ilse, die sich zur Ruhe gesetzt hat, in Wien wieder auf Viktor. Er ist ein berühmter Architekt geworden und entschließt sich spontan, sein ehemaliges Kinderfräulein einzuladen, den Lebensabend mit ihm zu verbringen. (Picus) zur Rezension ...
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"Schattenspringen"
Ein Roman über das Erwachsenwerden in der Welt nach dem Krieg.
Ivan Ivanji lässt den Helden seines autobiografische Züge tragenden Romans, "den Kleinen", als Sechzehnjährigen die Wochen nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald und bis zur Rückkehr ins heimatliche Jugoslawien erleben. Der eben freigekommene "Kleine" steht zwischen der seinem Alter entsprechenden Unbekümmertheit, den sentimentalen Erinnerungen an die Kindheit und einem tiefen Wissen vom Leben und der Welt, das ihm seine Erfahrungen in der Verfolgung eingeprägt haben. Lebens- und Erlebnishunger sind sein Antrieb bei der Wiederentdeckung der Welt, die physisch wie psychisch, materiell wie moralisch eine Trümmerwelt ist. In dieser Welt, die noch ohne festgeschriebene Regeln existiert, muss "der Kleine" sich behaupten, sich seinen eigenen Weg ohne verlässliche Vorbilder schaffen. Ivanji ist weder Moralisator noch Idealisator: Mit gehöriger Skepsis vor der Verlässlichkeit der Erinnerung beschreibt er klar und ohne Wehleidigkeit die Rückkehr seines Helden in die Heimat, die eine Rückkehr ohne Hoffnung auf Wiederbegegnungen ist: Auch der idealisierte Vater, der bis dahin immer Wort gehalten hat, wird diesmal sein Versprechen, sicher wiederzukommen, gebrochen haben. (Picus)
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"Barbarossas Jude"
Wer ist dieser Jude, der Barbarossa begleitet und im 20. Jahrhundert auftaucht?
Auf seinen Kreuzzug, der ihn auch durch Serbien führt, nimmt Kaiser Friedrich Barbarossa als Übersetzer einen Juden mit, der sich nach dem überraschenden Tod seines Herrn im Fluss Saleph für einige Jahrzehnte in Serbien niederlässt. Es ist ein sonderbares Geheimnis um diesen Isaak, der viele Väter hat, viele Tode stirbt und doch immer wieder in verschiedenen Jahrhunderten auftaucht. Nur ganz wenigen Sterblichen offenbart er sich vollständig. Ist er der Ewige Jude? Im Jahre 1993 erscheint er in Wien einem ehemaligen jugoslawischen Agenten, der seine Tochter und deren Kinder aus dem besetzten Sarajewo retten will. Um diesen Preis hat er sich in die Hände einer geheimnisvollen Organisation begeben, die ihm eine neue Identität verschafft. Außerdem gerät er in die Mühlen verschiedener Geheimdienste, unter anderem seines ehemaligen, und schließlich in Kontakt mit dem organisierten Verbrechen. Die grundverschiedenen Geschichten dieser beiden Männer, die einander doch wieder ähneln, verflicht Ivan Ivanji zu einem Roman, der im zwölften und im zwanzigsten Jahrhundert in Regensburg, auf Friedrichs Kreuzzug, im Kloster Studenica in Serbien ebenso spielt wie in Wien, Bonn und Sarajewo, und in dem er Tatsachen und Fiktion mischt, Elemente des historischen Romans mit jenen eines Agenten-Thrillers kombiniert. (Picus)
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