Ivan Ivanji: "Das Kinderfräulein"


Ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerter Roman ist Ivan Ivanji mit dem "Kinderfraulein" gelungen.
Die Titelheldin ist eine junge Kärntnerin, die es auf der Flucht vor der österreichischen Zwischenkriegsarbeitslosigkeit zu einem jüdischen Industriellen in den Banat, als Erzieherin seines einzigen Sohnes Viktor, verschlägt. Um das Leben ihres Schützlings zu retten, nimmt sie nach dem Einmarsch der Wehrmacht den Posten einer GESTAPO-Sekretärin an. Trotz allem, was sie in dieser Zeit zu sehen bekommt, gelingt es ihr, diese Arbeit bis zum Kriegsende auszuführen, nicht zuletzt, weil sie von ihrer jüdischen Freundin, der Mutter Viktors, die Kunst des wohldosierten Schnupfens von Kokain gelernt hat, ja, sie verbringt sogar den schönsten Tag ihres Lebens an der Seite eines Nazis. Nach dem Sieg Titos revanchieren sich die Nornen bei ihr, denn auch ihr Leben wird nun gerettet, von einem alten Bekannten und nunmehrigen Partisanen, "nur" 2 Jahre in einem Lager muss sie über sich ergehen lassen. Fast 50 Jahre danach trifft sie in Wien wieder auf Viktor........

In erster Linie einmal ist der Roman ein historisches Dokument. Ivanji beschreibt seine eigene Geburtsstadt Zrenjanin, den Alltag des bis kurz vor dem Krieg friedlichen Zusammenlebens von Serben, Ungarn, Deutschen, Juden und anderen Völkern. Schon hier wird das große Talent des Autors deutlich, die Psyche von Personen unterschiedlichster Herkunft und Nationalität in wenigen Worten einfach, klar und schlüssig zu entwerfen. Gleichzeitig bleibt er objektiver Erzähler, der nüchtern die verschiedenen subjektiven Welten seiner Figuren kontrastiert, seien es politische Schlagworte, nationalistische Clichés oder einfach unterschiedliche soziale Normen. So zeigt er einerseits die Relativität und Fragwürdigkeit all dieser konstruierten Wirklichkeiten auf und lässt die Situationen, in denen zwischen Menschen eine Kommunikation jenseits all dessen, sozusagen von Seele zu Seele (auch wenn dem Autor das Wort etwas suspekt ist), geschieht, in einem umso helleren Licht strahlen.

Das Nicht-mehr-Hinterfragen einmal enstandener Prägungen und die Zwanghaftigkeit des daraus resultierenden Verhaltens werden schließlich durch Krieg und Naziherrschaft um ein Vielfaches gesteigert. In dieser allgemeinen Form kann man alle Einwohner der Stadt als Kriegsopfer bezeichnen, ob aus ihnen nun Mitläufer oder Helden, Verräter, Partisanen oder Nazis werden. Dass es nicht nur etwa zwischen diesen Gruppen, sondern natürlich auch zwischen den einzelnen Vertretern einer Gruppe wesentliche Unterschiede gibt oder gab, und mit welchen Charaktereigenschaften diese zusammenhängen, schildert Ivanji mit erstaunlicher Unparteilichkeit und einem tiefen Humanismus, der das ganze Buch durchdringt.

(stro)


Ivan Ivanji: "Das Kinderfräulein"
Picus Verlag
280 Seiten
ca. EUR 24,90.
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