Gunna Wendt: "Franziska zu Reventlow"

Die anmutige Rebellin


Die Grenzgängerin oder rastlose Lebendigkeit
Auf der Suche nach freieren, ungebundeneren Lebensformen


"Die Jugend gibt Anlass zur Sorge. Das ist nichts Neues. 'Die Jugend von heute' war immer schon ein Codewort für alles, womit die Nachwachsenden den Erwachsenen Verdruss bereiten. Neu ist freilich, worüber die Jugendforscher seit einigen Jahren die Stirn in Falten legen. Man spricht von einer 'beunruhigenden Normalisierung'. Die Jugend ist ihren professionellen Beobachtern nicht mehr zu rebellisch, sondern zu angepasst." (Aus "DIE ZEIT" Nr. 33 vom 11.08.2005).
Ganz anders eine Frau, über die Rainer Maria Rilke vor über einhundert Jahren schrieb, dass ihr "Leben eins von denen ist, die erzählt werden müssen." Und er setzte noch hinzu "... und ich glaube, dass man es vor allem jungen Menschen erzählen muss, die das Leben anfangen wollen und nicht wissen wie."

Gunna Wendt, die bereits über mehrere Künstlerinnen wie z.B. Maria Callas oder Liesl Karlstadt Biografien schrieb, hat den Versuch unternommen, hinter die allgemein allzu oberflächlich wahrgenommene Fassade einer "Rebellin" und einer der schillerndsten Frauen der Schwabinger Künstlerszene des ausgehenden 19. und jungen 20. Jahrhunderts zu schauen und einer Frau gerecht zu werden, deren Lebensdaten mit denen des Deutschen Kaiserreiches identisch sind (1871-1918).

Franziska Gräfin zu Reventlow (getauft als Fanny Sophie Auguste Liane Adrienne Wilhelmine Comtesse zu Reventlow) - schon allein der Name weckt Assoziationen. Münchner Boheme fällt sofort ein. Aber auch "ein Leben in Freiheit: ungebundene Liebe, erotische Abenteuer, eine freie Schriftstellerexistenz, Wohngemeinschaft und ein Kind ohne Vater", berichtet Gunna Wendt in ihrem Prolog. Mit vielen Zuschreibungen wurde die Reventlow bedacht: "Heidnische Madonna, moderne Hetäre, Virtuosin des Lebens, grande Amoureuse, Schleswig-Holsteinische Venus, tolle Gräfin, Königin der Boheme, the woman who did, Ikone moderner Weiblichkeit - die Liste (...) ist lang, und sie wird ständig fortgeführt."

Gunna Wendt löst sich von diesen zum Teil falschen, den klaren Blick verzerrenden Bildern und Klischees. Sie blickt nicht nur oberflächlich auf diese anmutig-mutige, eigenwillige und künstlerisch begabte, auf jeden Fall bewundernswerte Frau. Entstanden ist eine überaus interessante, mitreißende und unterhaltsam geschriebene Biografie. Die Autorin versucht in Reventlows Innerstes vorzudringen und entdeckt dabei nicht immer nur eine Femme Fatale, sondern ebenso einen äußerst zerrissenen und glückssüchtigen Menschen, der sich stets eines zur Maxime gemacht hat, was kennzeichnend für sein ganzes Leben sein sollte: "Ich will überhaupt lauter Unmögliches aber lieber will ich das wollen, als mich im Möglichen schön zurechtlegen."

"Immer dominierte die Leidenschaft vor der Vernunft."
Für ihre behutsame Annäherung an Franziska zu Reventlow zieht die Autorin deren Tagebücher, ihren umfangreichen Briefverkehr sowie ihre Romane, Essays und Geschichten zu Rate. Vor allem die Kinder- und Jugendjahre rekapituliert sie aus dem autobiografischen Roman "Ellen Olestjerne".
Der Leser erfährt von dem schwierigen, traumatischen Verhältnis zu ihrer Mutter, die mit Härte, Unverständnis und vor allem Lieblosigkeit das unbändige Mädchen in starre, vorgezeichnete Bahnen lenken will. Doch gegen die öde Tugendhaftigkeit, die verlogenen traditionellen Moralvorstellungen rebelliert die blitzgescheite und begabte Tochter - die in den Husumer Jahren mit Theodor Storm und Ferdinand Tönnies befreundet war - schon früh. Der in seinem "Zarathustra" die transzendenten Werte als Fiktion entlarvende Nietzsche und Ibsens Bühnendramen, die die traditionellen Lebensformen radikal in Frage stellen, sind ihre großen Vorbilder. Franziska "verschreibt sich dem Teufel". Sie rebelliert, was wiederum diverse "erzieherische Maßnahmen" nach sich zieht.

Mit achtzehn verlässt sie ihre kleinbürgerliche Welt im hohen Norden, um "ihr Innerstes vor anderen in Sicherheit zu bringen". Nach erfolgreichem Examensabschluss als Lehrerin flieht sie 1893 in den aufstrebenden Süden, nach München, um sich zur Malerin ausbilden zu lassen. Hier im Stadtteil Schwabing, dem "Wahnmoching", der "Massensiedlung von Sonderlingen" - das die Reventlow in ihrem Schlüsselroman "Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil" anschaulich beschreibt und wo durchaus Parallelen zur sechzig Jahre späteren Hippie-Bewegung zu erkennen sind - findet sie endlich die geeignete geistig-künstlerische Umgebung für sich. Mit emotionalem Überschwang stürzt sie sich ins neue Leben, publiziert bald im berühmt-berüchtigten "Simplicissimus", der von Albert Langen und Theodor Heine gegründeten satirischen Wochenzeitschrift und beginnt an ihrem ersten Roman zu arbeiten.

"Das Spannende, Glanzvolle verbindet sich mit dem Trostlosen, Verzweifelten"
"Sie hatte viel zu geben, vor allem sich selbst, und immer dominierte die Leidenschaft vor der Vernunft." Zahlreiche Männerbekanntschaften kreuzen ihre Bahn, die sich wie ein Verzeichnis der damaligen Künstlerszene lesen: zum Beispiel Ludwig Klages, Karl Wolfskehl, Erich Mühsam, Stefan George, Edgar Jaffé. Zwei Ehen, eine Scheidung, permanente materielle Not, die sie gar durch Prostitution zu lindern sucht und Krankheit bestimmen fortan ihr sinnliches, aber freies Leben. "Das Spannende, Glanzvolle verbindet sich mit dem Trostlosen, Verzweifelten", stellt Gunna Wendt treffend fest. Der 1897 geborene Sohn Rolf verleiht ihr zwar etwas Stabilität, bildet einen Haltepunkt und eröffnet der Mutter den Zugang zu ihrer eigenen Kindheit, aber der Ruhelosen wird auch München nicht die seelische Heimat, die sie sucht.
1918 stirbt Franziska zu Reventlow bei einem Fahrradunfall.

Nicht das "Skandalpotenzial" der "Rebellin" arbeitet Gunna Wendt in ihrer sorgfältig recherchierten Biografie, die durch große Liebe zum Detail besticht, heraus, sondern sie lotet Franziska zu Reventlows Leben behutsam aus und zeichnet ein sensibles und vor allem stimmiges Bild einer lebensgierigen und lebensmutigen Frau. Gunna Wendt nimmt ihr keineswegs die Identität, sondern sie unterstreicht sie liebevoll und mit großer Achtung. Den Worten Erich Mühsams, dass sie einer der "innerlich freiesten und natürlichsten Mensch", denen er je begegnete sei, "gleichmäßig ausgezeichnet von höchstem weiblichen Charme, gepflegtester geistiger Kultur, kritischster Klugheit, anmutigstem Humor und vollkommenster Vorurteilslosigkeit", glaubt man nach diesem Buch sofort.

Auch wenn Franziska zu Reventlows Leben sicherlich ihr kühnstes Werk war, so entstand doch ganz "nebenbei" "mehr der Not und den Zufällen geschuldet und von der literarischen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, ein schmales Oeuvre, das zunehmend ironischer und souveräner von Liebe, Boheme und Geld erzählt", so die Autorin. Auf jeden Fall ist Lust auf die Werke dieser viel zu früh verstorbenen Frau geweckt.

Eine kurze zusammenfassende Chronik, ein Literaturverzeichnis und 26 eingestreute Abbildungen, die beweisen, dass die Gräfin mit zunehmendem Alter immer sinnlicher und attraktiver wurde, komplettieren diese wunderbare Biografie.

Fazit:
Gunna Wendt zeichnet anhand zahlreicher Quellen ein stimmiges Bild einer rast- und ruhelosen Frau, die sich weder einer Autorität noch familiären oder gesellschaftlichen Ansprüchen unterwarf, obwohl es sicher bequemer gewesen wäre. "Aber Bequemlichkeit war nie ihr Lebensideal."
Eine wohltuend dezent bleibende, keinesfalls sich nur an der Oberfläche bewegende Herausarbeitung einer faszinierenden, ausdrucksstarken und sinnlichen Frau, die das Bild der Schwabinger Boheme zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend mitprägte.

(Heike Geilen)


Gunna Wendt: "Franziska zu Reventlow. Die anmutige Rebellin"
Aufbau-Verlag, 2011. 317 Seiten.
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Gunna Wendt wurde 1953 geboren. Neben ihren Arbeiten für Theater und Rundfunk veröffentlichte sie Kurzgeschichten, Essays und Biografien, u. a. über Maria Callas, Helmut Qualtinger, Clara Rilke-Westhoff, Paula Modersohn-Becker und Liesl Karlstad.

Ein weiteres Buch der Autorin:

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Die Bechsteins - eine schillernde Dynastie in den Wirren ihrer Zeit.
Die erste Lebens- und Wirkungsgeschichte einer deutschen Familie, deren Klavierbaukunst die Musikwelt bis heute nachhaltig prägt und die in der Nazizeit eine bizarre Liaison mit Hitler einging.
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Kerstin Decker: "Franziska zu Reventlow" zur Rezension ...

Franziska Gräfin zu Reventlow: "Von Paul zu Pedro. Amouresken"
Geistreiche und vergnügliche Männertypologie einer Bohemienne.
Franziska zu Reventlow (1871-1918) war eine der schillerndsten Figuren der Münchner Boheme um 1900. Bekanntheit erlangte sie vor allem durch ihre turbulente Lebensweise und zahlreiche Liebhaber. Auch in ihrem autobiografisch geprägten Roman geht es Schlag auf Schlag "von Paul zu Pedro", und das ohne Reue und Herzschmerz. Die Reventlow'sche Ironie macht dabei selbst vor der eigenen Person nicht halt: "Wie angenehm, dass man als Frau keine Logik zu haben braucht!"
Eine der unkonventionellsten Autorinnen der Jahrhundertwende. (Manesse)
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