(...) Die Nacht ist warm, die Nacht ist lang, die Nacht ist wunderbar dazu geeignet, dass man sich Geschichten anhört, sagte der Mann, der sich neben mich auf den Sockel der Statue von Don José setzte. Es war wirklich eine wunderbare Nacht, eine warme und milde Vollmondnacht, die etwas Sinnliches und Magisches hatte, auf dem Platz waren fast keine Autos, die Stadt stand gewissermaßen still, die Leute waren wohl an den Stränden geblieben und kamen später zurück, der Terreiro do Paço lag einsam da, ein Fährschiff tutete, bevor es ablegte, seine Lichter waren die einzigen, die auf dem Tejo zu sehen waren, alles war reglos, als sei es verzaubert, ich sah meinen Gesprächspartner an, er war ein dünner Landstreicher mit Tennisschuhen und einem gelben T-Shirt, er hatte einen langen Bart und war fast kahl, er war wohl ungefähr in meinem Alter oder etwas älter, auch er sah zu mir her und hob mit einer theatralischen Geste den Arm. Das ist der Mond der Dichter, sagte er, der Dichter und der Geschichtenerzähler, das ist eine ideale Nacht, um sich Geschichten anzuhören, aber auch, um welche zu erzählen, möchten Sie nicht eine hören? Und warum sollte ich mir eine Geschichte anhören? sagte ich, ich sehe keinen Grund dafür. Es gibt einen ganz einfachen Grund, antwortete er, es ist eine Vollmondnacht, und Sie sitzen hier ganz allein und betrachten den Fluss, Ihre Seele ist einsam und hat Sehnsucht, und eine Geschichte könnte Sie fröhlich stimmen. Ich habe den ganzen Tag Geschichten gehört, sagte ich, ich glaube nicht, dass ich noch welche brauchen kann. Der Mann schlug die Beine übereinander, stützte mit nachdenklicher Miene das Kinn auf die Hände und sagte: Eine Geschichte kann man immer brauchen, auch wenn es nicht so aussieht. Aber warum sollten gerade Sie mir eine Geschichte erzählen? fragte ich, das verstehe ich nicht. Weil ich Geschichten verkaufe, sagte er, ich bin ein Geschichtenverkäufer, das ist mein Beruf, ich verkaufe selbsterfundene Geschichten. Das verstehe ich nicht, sagte ich. Hören Sie, sagte er, das wäre eine lange Geschichte, aber die will ich Ihnen heute nacht nicht erzählen, für gewöhnlich spreche ich nicht gern von mir, ich spreche lieber von meinen Personen. Nein, nein, protestierte ich, Ihre Geschichte interessiert mich, erzählen Sie mir etwas von sich. Da gibt es nicht viel zu erzählen, sagte der Geschichtenverkäufer, ich bin ein gescheiterter Schriftsteller, das ist meine ganze Geschichte. Entschuldigen Sie, sagte ich, aber ich verstehe Sie wirklich nicht, wollen Sie mir nicht etwas mehr erzählen? Nun, sagte er, ich bin Arzt, ich habe Medizin studiert, aber Medizin war nicht die Wissenschaft, die ich studieren wollte, als Student habe ich die Nächte damit verbracht, Geschichten zu schreiben, dann habe ich promoviert und angefangen, meinen Beruf auszuüben, ich habe begonnen, in einer Beratungsstelle zu arbeiten, aber ich langweilte mich mit meinen Patienten, ihre Fälle interessierten mich nicht, mich interessierte vielmehr, an meinem Schreibtisch zu sitzen und Geschichten zu schreiben, ich habe nämlich eine blühende Fantasie, die ich nicht im Zaum halten kann, sie ergreift von mir Besitz und zwingt mich, Geschichten zu erfinden, alle Arten von Geschichten, tragische, komische, dramatische, fröhliche, oberflächliche, tiefsinnige, und wenn sich meine Fantasie entfesselt, kann ich fast nicht mehr leben, ich beginne zu schwitzen, fühle mich schlecht, bin unruhig und durcheinander, ich sitze da und denke an meine Geschichten, nichts anderes hat mehr Platz. (...)


Aus "Lissabonner Requiem" von Antonio Tabucchi
Eine hinreißende Liebeserklärung an Lissabon, seine Cafés, seine Museen, seine Friedhöfe, seine Menschen, verfasst von einem der größten Bewunderer dieser Stadt. Antonio Tabucchi beschreibt wieder einmal den fließenden Übergang zwischen Traum und Wirklichkeit, Realität und Fiktion. Antonio Tabucchi, 1943 in Pisa geboren, lehrte portugiesische Sprache und Literatur an der Universität in Genua. Er ist Herausgeber der italienischen Ausgabe der Werke von Fernando Pessoa. Ausgezeichnet mit den wichtigsten italienischen Literaturpreisen, gilt er als einer der interessantesten und bedeutendsten Schriftsteller der jüngeren Generation.