(...) Geboren wurde ich, wenn Sie das wirklich hören wollen, meine Herren, geboren wurde ich in der Nacht vom 31. Dezember 1899 auf den 1. Januar 1900, und mein Vater war der Sohn eines orthodoxen russischen Priesters und meine Mutter eine Deutsche (ihren Eltern – und später ihrem Bruder – gehörte ein großes Gut in Landskron am Fuße des Adlergebirges). Ich wurde zu Hause geboren, damals machte man das noch so. Meine Hebamme war Magda, eine Ungarin aus Preßburg. Meine Geburtsstadt Brünn. Die genaue Stelle dann ein Bett, eine Pritsche im dritten Stock eines großen Mietshauses in der Ferdinandstraße (später Masarykstraße, noch später Hermann-Göring-Straße und noch später wieder Masarykstraße und noch später Straße des Sieges und dann kurz wieder Masarykstraße und dann wieder lange Zeit Straße des Sieges und heute wieder Masarykstraße).

Jede Geburt ist, falls Sie das nicht wissen sollten, meine Lieben, für alle Beteiligten auch ein Zirkus von Emotionen. Die Hebamme hielt mich und schrie etwas auf ungarisch und slowakisch. Mutter versuchte, mich anzusehen, und obwohl man sie daran zu hindern versuchte und mit aller Gewalt ins Bett zurückdrückte, stützte sie sich auf die Ellenbogen, richtete sich auf wie eine Kobra und murmelte einen Augenblick hastig etwas auf tschechisch und gleich darauf wieder auf deutsch. Vater kniete auf dem Boden, und er, der es mit dem Glauben bisher nicht so genau genommen hatte, betete jetzt auf russisch, und in diesen großen orthodoxen Strom, der sich aus ihm herauswälzte, flossen auch tschechische Sätze wie Vegetationsinselchen, die von der Flut mitgerissen wurden. Um das Bett herum standen auch unsere amerikanischen Gäste, die zufällig dazugestoßen waren, denn sie waren gerade mit dem Schiff von den Niagara Falls gekommen und vom Hamburger Hafen mit der Eisenbahn angereist, sie brachten uns Bären- und Bisonfell und standen jetzt da wie die drei Könige aus der Neuen Welt, und es waren auch wirklich Könige, drei Indianerhäuptlinge (das erkläre ich Ihnen gleich), und sie murmelten wiederum etwas in einer Indianersprache. Und in dieses Sprachengemisch drang die ausgelassene Fröhlichkeit des Maskenumzugs, der über die Ferdinandstraße zog. Inmitten des nächtlichen Brünns explodierten Champagnerflaschen, spielte eine kreischende Kapelle, brannten viertausend Lichter wie Augen von zweitausend Eulen, und die als Tiere verkleideten Menschen knurrten, bellten, miauten, grunzten, wieherten, iahten, meckerten, blökten, krähten und muhten. Mein Leben hatte begonnen, und es begann ein neues Jahrhundert.

Aber ich möchte das Wichtigste natürlich nicht unterschlagen: In dem Moment, da ich geboren wurde, hörte ich trotz all dieses Lärms um mich herum deutlich jemandes Stimme, der mich schon ungeduldig erwartete. Und diese Stimme, meine Täubchen, konnte nur ich hören, und sie war wie eine gestraffte Angel, die mich hartnäckig aus der Gebärmutter zog, die Stimme meines Herrn, und kaum daß ich mich nach draußen durchgeschlagen hatte, antwortete ich ihm mit einem sehnsuchtsvollen Schrei und wußte schon gleich in diesen ersten Momenten, wie er jetzt irgendwo weit weg, himmelweit weg wußte (naja, um nun nicht zu übertreiben, so weit wiederum auch nicht), daß ich gerade geboren wurde.

Im Gegensatz zu mir war er schon das zwölfte Jahr auf der Welt und beobachtete aus der Ferne die Vorbereitungen zu meiner Empfängnis (er kroch meinen Eltern in die körperlichen Gelüste und stichelte sie von weitem permanent an und kiebitzte ihnen ständig da hinein: Nun macht! Worauf wartet ihr? Und was machst du da, Herrgott noch mal! Zieh's jetzt nicht aus ihr raus! Jetzt mußt du's drinlassen! Du willst der Sohn eines orthodoxen Popen sein, wenn du nicht einmal weißt, daß es Sünde ist, zu unterbrechen?! Also, stoß zu, siehst du! Ahhh, das ist Seligkeit, was?), und als es endlich zur Empfängnis gekommen war, streckte er wiederum aus der Ferne ein unsichtbares Stetoskop aus, das auf eine lange Stange gesetzt war, und horchte, ob ich zu hören war, und als ich schließlich geboren wurde, freute er sich wahnsinnig und packte die Schneiderpuppe (er war der Sohn eines Hofschneiders) und wirbelte mit ihr durch die Werkstatt, während seine Eltern zur selben Zeit am Wiener Hof (in der Hofburg) am königlich-kaiserlichen Ball anläßlich der Begrüßung des neuen Jahrhunderts teilnahmen.

Bis hier, meine Herren, lief also alles kolossal. Unsere Begegnung als unsterbliche Liebende des bevorstehenden Jahrhunderts (Petrarca und Laura im Atomzeitalter, Tristan und Isolde in den Zeiten der Küchenroboter, Sputniks, Computer und Holocausts) war also feierlich vorbereitet. Auf der einen Seite durch unsere furchtbare Triebausstattung, die fähig war, auch eine kosmische Rampe kurz vor dem Raketenstart rhythmisch zu erschüttern, und auf der anderen Seite durch die Liebe bis in den Tod. Von Anfang an wußten wir voneinander, und die gewaltige gegenseitige Anziehung, die lediglich mit dem mächtigen Sog des Golfstroms zu vergleichen ist, sollte unsere rechtzeitige Begegnung gewährleisten, dieses verblüffende, lediglich mit der Entdeckung der Molekülstruktur der DNA vergleichbare Ereignis.

Aber der Zufall ist ein Esel, wie Sie schon ahnen werden. Drei Tage nach meiner Geburt kam der zwölfjährige Bruno Mlock von einem Besuch bei seinem Onkel Mosche Bajles zurück, er kehrte heim in die Leopoldstadt, aber anstatt daß er schön bis zur Reichsbrücke gegangen wäre, wollte er eine Abkürzung über die zugefrorene Donau nehmen; weil es jedoch schon spät am Abend und der Herrgott hoch und die Wiener Straßenbeleuchtung noch weit war, fiel er in dieser Dunkelheit in ein Loch, das Wiener Hechtjäger ins Eis geschlagen hatten. Und sofort riß ihn die Strömung mit sich, und ich hörte, wie er vor Wasser keine Luft mehr bekam, schon eingemauert unter dem Eis, an das von unten seine Nägel kratzten wie in den Deckel eines gläsernen Sargs, ich hörte in meinem Kopf dieses furchterregende Kratzen, als drehte sich mir dort Edisons Phonograph, aber ich lag machtlos da, in Windeln und Decken gewickelt und dazu noch mit einem Wickelband verschnürt, und einen Augenblick später verstummte dann Brunos verzweifeltes Kratzen in meinem Kopf vollständig, als löschte der Küster auf dem Hauptaltar alle Kerzen, und es war dunkel und still, still und dunkel.
Und so endete alles, noch bevor es hatte beginnen können. Die Triebausstattung verfehlte augenblicklich ihren Zweck und tobte nur noch wie wild geworden, von der Liebe bis in den Tod blieb nur der Tod (in den kalten und feuchten Tiefen des Grabes rauften die Hechte wie tollwütige Hunde um Brunos Silberknöpfe), und gerade begann das Jahrhundert, das für mich lediglich eine ewige Trauerfeier für Bruno werden sollte.

Aber dann geschah plötzlich etwas Merkwürdiges.
Und darum geht es auch, meine goldigen Schätze, in meiner folgenden Erzählung.


2 Aus der Familiengeschichte

Einen Großteil meiner Kindheit verbrachte ich in Landskron, wo mein Onkel Helmut Sammler ein großes Gut besaß, mit ausgedehnten Ländereien und Wäldern, durch die man laufen und noch weiter laufen und zwei drei Stunden laufen und sich verirren konnte, ohne jemals ans Ende zu gelangen.

Die Eltern meiner Mutter (Walter und Alma Sammler) vermachten den großen Familienbesitz ihrem erstgeborenen Sohn, Onkel Helmut, der seine drei Geschwister (darunter meine Mutter) nach genau berechneten Anteilen, die einen bestimmten Prozentsatz des Familienvermögens betrugen, auszahlte. Das war damals gang und gäbe, der Besitz durfte nicht auseinandergerissen werden, und so übernahm der Erstgeborene das Gut, und Mutter brachte ihren Anteil auf die Bank. Außerdem schickte uns Onkel Helmut jeden Monat – bis ins Jahr 1945 hinein, als er das Gut verlor – einen großen Essenskorb aus Landskron, so daß ich bis zu meinem fünfundvierzigsten Lebensjahr nicht wußte, was Hunger und Not ist.

Dafür winkte uns von der Familie väterlicherseits absolut nichts, ja, weniger noch als das: nictozestvo i niscenskaja nisceta, wenn Sie verstehen, was ich meine. Vater war nämlich der Sohn eines armen orthodoxen Popen, der nach dem Tod seiner Frau einem mystischen Wüten verfiel, das ihn zu einer der damaligen Sekten hätte führen können, den Geißlern, den Unsterblichen oder den Skopzen, tat es aber nicht, sondern er ging statt dessen, sieh mal einer an, seinen eigenen Weg, er packte auf einmal seinen Popen-Laden zusammen und zog durch die Ukraine und durch Galizien und weiter in den Süden der österreich-ungarischen Monarchie bis nach Triest und von dort weiter nach Italien. Er wanderte in einem Wohnwagen umher, auf den ein riesiger Christus Pantokrator, Vsedjerzitel, der Allherrscher, gemalt war, mit einem strengen, durchdringenden Blick, vor dem es kein Verbergen gab, seine Rechte erteilte den Segen, und die Linke hielt den geöffneten Kodex empor, und drinnen im Wagen, hinter Christi Rücken, schrien Großvaters hungrige Kinder. So war aus Großvater ein Zigeuner-Pope geworden, der von der Vision eines orthodoxen Amerika getrieben wurde und auf dem Weg über Europa seine Kinder streute (zwischen Proßmeritz und Oleksowitz verstreute er meinen Vater), und in Italien schiffte er sich mitsamt seinem Wohnwagen ein und setzte über in die ersehnte Neue Welt. Am Himmel malten Blitze Drudenfüße und Symbole von Tarotkarten sowie einen aus dem Wasser emporsteigenden Ziegenbock, den Antichristen, aber auch eine Himmelsleiter, von der Mönche in den Schlund des Meeresdrachen Bythios Drakon herabfielen, und aus dem Meer tauchten Wasserdämonen und Meeresungeheuer auf, bereit, auf Befehl die italienische Nußschale samt Großvaters Wohnwagen zu vertilgen, aber der Befehl wurde stets rechtzeitig widerrufen, so daß mein Großvater in Amerika ankam. Dort machte er sich schleunigst daran, die Ureinwohner auf kirchenslawisch anzusprechen, und er wurde tatsächlich der erste orthodoxe Bischof aller nordamerikanischen und kanadischen Indianer, von Alaska bis an die mexikanische Grenze, und auf sein Geheiß fuhr im Jahre 1897 eine indianische Abordnung nach Petersburg (sie kamen auf Schlitten und Schneeschuhen über den zugefrorenen finnischen Meerbusen angereist), um dem orthodoxen Zaren ihre Aufwartung zu machen. Sie überbrachten ihm nicht nur die obligatorischen Bären- und Bisonfälle, sondern auch das Angebot, der große Häuptling aller übriggebliebenen und verwaisten Indianerstämme zu werden, insbesondere der Dakota, Delawaren, Shoshoni, Apachen, Irokesen, Omaha, Navajos, Shawnee und Ojibwa, von den Cherokee ganz zu schweigen, aber Väterchen Zar verschmähte dieses großzügige Angebot, und so blieb er mit seinem Romanowschen Allerwertesten auf der Scholle von Zarskoje Selo kleben und beschwörte damit alle Katastrophen herauf, die ihn dann dort in den folgenden zwanzig Jahren auch heimsuchten einschließlich der Herrschaft der Antichristen, von denen der eine, Lew Dawidowitsch Bronstein, sogar die zynische und ketzerische Frechheit besaß, sich unseren Familiennamen – Trotzkij – anzueignen und ihn als seinen revolutionären Namenszusatz zu verwenden.

An meinem Vater war jedoch überhaupt nichts Popenhaftes mehr, es sei denn, ich würde seine Vergötterung der Technik für so etwas halten. Er war ein begeisterter Edisonianer und hatte sein ganzes Leben lang das Bedürfnis, sich in der Nähe von etwas aufzuhalten, das funkelte, lärmte und rauchte. Er begann zwar als Schlosser – auf seinem Firmenschild prangte ein ungesattelter Schlüssel, auf dem ein Reiter wie auf einem wilden Mustang saß –, aber schon sehr bald sattelte er aufs Feuerroß um und verdiente sich seine Sporen bei der Nordbahn des Kaisers Ferdinand, wo er lange Zeit mit der berühmten Lokomotive Komet II. fuhr. (Jawohl, meine Herren, damals wurden Lokomotiven noch getauft und bekamen Namen!) Meiner Mutter begegnete er allerdings erst auf der Strecke Prag–Olmütz, als sie mit ihrem Bruder Joachim nach Brünn fuhr, der zu der Zeit schon Kapuzinermönch in einem Alpenkloster unweit von Salzburg war (seinen gesamten Anteil am Landskroner Besitz, das dürfte Sie wohl interessieren, hatte er dem Kapuzinerorden übertragen, und so wanderte jeden Monat auch ein Landskroner Proviantkorb in das Bergkloster, aber Onkel Joachim hat davon nie auch nur ein kleines gebratenes Rebhuhn gesehen).

Aber noch bevor mein Vater meiner Mutter begegnete, trafen Mutter und ihr Bruder Joachim auf den als Radek der Kolporteur bekannten Anarchisten. Er verteilte im Zug die achte Nummer des anarchistischen Arbeiterblatts. Er hatte aber meinen Kapuziner-Onkel noch nicht ganz bemerkt, da fingen seine Augen an zu glühen, weil er sich vermutlich des vierten anarchistischen Gebots des Fürsten Kropotkin entsonnen hatte (Klerikern aller Art sollst du eins aufs Maul geben!), und er legte das Zeitungspaket zur Seite und stürzte sich auf meinen Onkel mit der Absicht, ihm die Kapuze über die Augen zu ziehen und ihn auch sonst gut durchdacht zu erniedrigen. Da war er aber schlecht beraten, denn der Kondukteur rannte sofort zu meinem Vater und berichtete ihm, daß sich im dritten Abteil des zweiten Waggons Radek der Kolporteur befinde und dort einen Mönch grob erniedrige, ohne auf die anwesenden Damen Rücksicht zu nehmen. Mein Vater tat das, was man in solchen Fällen ganz selbstverständlich zu tun pflegte. Er brachte die Maschine zum Stehen (will heißen, er führte einige Handlungen aus, die zum Anhalten der Maschine notwendig waren, aber der Bremsweg der Lokomotiven war damals lang wie ein Kometenschweif, und für diese Zeit übernahm dann der Heizer die Verantwortung) und ging mit einer Eisenstange bewaffnet in den zweiten Waggon, drittes Abteil. Kaum hatte Radek der Kolporteur ihn bemerkt, ließ er von dem Mönch ab, warf die Zeitungen aus dem Waggon und sprang hinterher, und von den aus den Fenstern lehnenden Passagieren beobachtet, kullerte er den Bahndamm hinauf, als wäre er von einer anarcho-syndikalistischen Kraft angetrieben. Vater richtete einige entschuldigende Worte an Joachim (er fühlte sich nämlich für die Ordnung im ganzen Zug verantwortlich), schenkte Mutter ein galantes Lächeln, wobei er es nicht versäumte, auch mit ihr ein paar Worte zu wechseln, und kehrte erst dann zurück auf die Lokomotive, er nickte dem Heizer zu, und die große, schwere Maschine mit dem trichterartigen Schornstein und der langen Waggonkette setzte sich langsam wieder in Bewegung.
An jenem Tag passierte nichts Wichtiges mehr. Was sich dann in den folgenden Wochen auf der Strecke Prag– Olmütz zugetragen hat und schließlich auch zu meiner Geburt führte, ist wohl so offensichtlich, daß ich es mir ersparen kann.


aus "Unsterbliche Geschichte" von Jirí Kratochvil
Roman. Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedtke und Milka Vagadayová
In Unsterbliche Geschichte erzählt die Protagonistin Sonja Trotzkij-Sammler ihr Leben: Sonja wird in der Silvesternacht des Jahres 1899, eigentlich am 1. Januar 1900, in Brünn geboren. Ihre Geburt wird von ihrem (vorbestimmten) zu diesem Zeitpunkt zwölfjährigen Liebhaber Bruno Mlock ungeduldig erwartet, doch auf dem Heimweg von einem Besuch bei seinem Onkel ertrinkt Bruno drei Tage nach Sonjas Geburt in der Donau. Dennoch kehrt er in ihr Leben in Gestalt verschiedener Tierinkarnationen in regelmäßigen Abständen zurück, um sich mit ihr in Liebe zu vereinen: »In jenen Jahren hatten wir schließlich gelernt, den Ersatz zu lieben, Butterschmalz anstelle von Butter und dann auch noch irgendeinen künstlichen Honig. Und auch mein ganzer Weg zu Bruno war von Ersatz gesäumt, geliebtem Ersatz.«
Sonja Trotzkij-Sammler wächst mit dem Jahrhundert, und ihr eng mit der Geschichte verwobenes Leben erlaubt dem Leser Ein-, Durch- und Rückblicke auf das 20. Jahrhundert. Ein Jahrhundertroman im wahrsten Sinne des Wortes!
JIRÍ KRATOCHVIL, 1940 in Brünn geboren, wo die meisten seiner sechs Romane situiert sind. Sohn eines russischen Emigranten, in den siebziger und achtziger Jahren Publikationsverbot. Romane, Kurzprosa und Essays. Jirí Kratochvil erhielt am 6. Dezember 1999 aus der Hand Václav Havels den Jaroslav-Seifert-Preis, die höchste literarische Auszeichnung seines Landes. Auf deutsch liegt von ihm bislang die Romane »Inmitten der Nacht Gesang« (1996) und »Unsterbliche Geschichte« (2000) vor. (Ammann)
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