Jiří Kratochvil: "Femme fatale"
Eine (beinahe) unendliche
          Geschichte von Weichenstellungen und Lebens(irr)wegen einer für sich
          und zahlreiche Männer verhängnisvollen Frau: Schicksalskorrekturen von
          Meister- oder Geisterhand?
        
        Laut "Duden" bezeichnet "femme fatale" eine "Frau mit Charme und
          Intellekt, die durch ihren extravaganten Lebenswandel und ihr
          verführerisches Wesen ihren Partnern häufig zum Verhängnis wird".
        Doch der am 4. Jänner 1940 in Brno (Brünn) geborene Jiří Kratochvil ist
        bekanntlich ein findiger Erzähler, dessen Geschichten die Grenzen
        geläufiger Definitionen nicht selten sanft - aber doch - auflösen.
        Laut Klappentext, der - heutzutage eine Rarität - nur einen einzigen
        Superlativ enthält, 
        
        Anhand einiger Ausschnitte ausgesuchter Lebenswege erzählt Kratochvil
        also von den Wendejahren; davon, wie die Entwicklungen und Veränderungen
        jener Zeit vornehmlich in Brünn, der zweitgrößten Stadt der
        Tschechischen Republik, von Emporkömmlingen und Wendeverlierern erlebt
        wurden, schildert Brünner Szenerien mit Wiedererkennungseffekt und
        geleitet den Leser, beginnend mit einer politischen Veranstaltung im
        "Haus der Kunst" im November des Jahres 1989, langsam aber zielstrebig
        an sicherer Erzählerhand in nach und nach verblüffendere, fantastischere
        Kapitel.
        
        Jiří Kratochvils fantasievolle Überraschungen.
        Des Autors ebenso kraft- wie kunstvolles Spiel mit verschiedenen
        Perspektiven, Zeitschleifen, Déjà vu-Erlebnissen (darunter der von einem
        Auto angefahrene Vašek, Auftritte von Straßenmusikanten), scheinbaren
        Gedächtnislücken, Schuld, Sünde und Sühne, Rache und Schicksal,
        Doppelgängermotiv und Fabelwesen gar sowie wundersamen, gewissermaßen
        mit Eigenleben ausgestatteten, immer wieder auftauchenden Gegenständen
        (der sich verwandelnde Gobelin im Lokal "Wohlleben", die auf einer
        Müllhalde gefundene Trommel, das geheimnisvolle Zigarettenetui aus der
        Hand eines gewissen Rudolfs II.,...) und Erwartungshaltungen des Lesers
        entfaltet jedoch erst nach 111 Seiten zunehmend Sinn sowie den für
        Kratochvils Stil bezeichnenden Zauber und gewinnt in weiterer Folge an
        Dynamik und Bedeutung, wenn erstmals auf Seite 111 die Erzählperspektive
        "verrutscht".
        Bis dahin gibt die Geschichte keines ihrer faszinierenden Geheimnisse
        preis, vielmehr muss der geneigte Leser eine mitunter mühsame
        "Durststrecke" in Gestalt des ersten Teils mit dem Titel "Die nächtliche
        Sonne" überwinden, deren fundamentale Bedeutung als Grundgerüst und
        Bezugspunkt sich jedoch rückblickend enttarnt. Nicht unerwähnt bleiben
        sollen die geschickt eingestreuten Verweise auf andere Künstler und
        deren Werke.
        
        Zunächst ist also wiegesagt Durchhaltevermögen gefragt: Bis Seite 111
        berichtet nämlich der mäßig sprachgewandte ehemalige Sportlehrer und
        nunmehrige Besitzer einer Kette von Trimmdichstätten Zdenĕk
        Štastný von jenem weniger für ihn selbst als für Kratochvils
        interessante Erzählkonstruktion bedeutsamen Lebensabschnitt, als er die
        aufgrund ihres Erstlingswerks mit dem Titel "Fallstricke", (und dieser
        Titel kommt wahrlich nicht von ungefähr!), hochgejubelte "Femme
          fatale", die Jungschriftstellerin Kateřina Káníčková, eine eher
        unscheinbare, nichtsdestotrotz vorgeblich zugunsten ihres Schreibens
        Sexsüchtige, die "sinnliche Erregung" als Inspirationsquelle 
        Was als eine seiner zahlreichen außerehelichen Affären beginnt,
        entwickelt sich zu einem wechselvollen zeitweiligen Miteinander, dem
        jedoch zunehmend Schrecknisse innewohnen. Da kann auch der von Zdenĕk
        Štastný konsultierte ehemalige Mitschüler, der Psychologe Oldřich, nur
        mehr oder minder amüsante Lehrbuchweisheiten zum Besten gehen.
        Der Sportlehrer, am geschriebenen Wort eher nur am Rande interessiert
        und den Literaturbetrieb lediglich als Zaungast beobachtend, beschreibt
        sich übrigens folgendermaßen: "Ich bin ein altes promiskuitives
          Schwein, auch wenn nicht mein ganzes Leben darauf aufgebaut ist. Kein
          Frauensammler, aber trotzdem spielt Sex in meinem Leben eine sehr
          wichtige Rolle. Meine Frau weiß das vermutlich, obwohl ich meine
          Abenteuer sorgfältig vor ihr verberge." (S. 22)
        Die Begegnungen der beiden, meistens in der Pension "Jenewein", dem
        florierenden Brünner Stundenhotel Adam Dvojbradýs, eines früheren
        Klassenkameraden Zdenĕk Štastnýs, geben über weite Strecken den Takt des
        Berichts vor; es wird sozusagen gevögelt, was das Zeug hält.
        
        Wie weit kann, darf und soll ein Schriftsteller gehen?
          Willensfreiheit und "Fallstricke" ...
        Die einige Jahre lang auch international höchst populäre
        Schriftstellerin Kateřina Káníčková, genannt Katka, im November 1989 von
        Prag kommend in Brünn gewissermaßen "gestrandet", mit ihrem Entdecker,
        dem vielleicht schwulen Dozenten Kvaš, verheiratet, überspannt den Bogen
        zunehmend. Sie nützt ihre Bekanntheit auf geradezu sündhaft-schamlose
        Weise, schont weder sich noch Andere; immerhin hat sie mehr oder minder
        zufällig den richtigen Roman zur rechten Zeit verfasst, doch die
        Schlingen ihrer eigenen "Fallstricke" wickeln sich immer enger um sie,
        ein zweites Werk mit vergleichbarer Strahlkraft will einfach nicht
        zustandekommen. Allerdings stachelt Katkas scheinbar grenzenloser Erfolg
        sie zu immer grenzenloserem Verhalten an, und falsch verstandene
        Freiheiten der Kunst schlagen gewissermaßen gnadenlos zurück.
        Doch ist "Femme fatale" selbstverständlich weit mehr als eine Satire auf
        den zeitgenössischen Literaturbetrieb.
        
        Da Kratochvil bisweilen recht sonderbare Bilder bemüht, als Beispiel sei
        hier  "Die Nacht legte sich bereits auf die Landschaft wie eine
          riesige schwarze Kuh (...)" angeführt, möge in dieser Rezension
        die nachstehende Aussage gestattet sein:
        Man wird Zeuge des Aufstiegs und Falls einer "literarischen
        Eintagsfliege", die Männer umschwirren Katka wie Motten das Licht und
        gehen nicht selten daran zugrunde, bis - ja, bis es eines Tages die
        Mutter des nach einem tragischen Unfall im Rollstuhl sitzenden
        Liebhabers Zbyněk, der (nur?) wegen Katkas Verhalten Selbstmord begangen
        hat, nicht mehr erträgt, und sie "Spezialisten für Selbstjustiz"
        anheuert, die dem unheilvollen irdischen Treiben Katkas - zumindest
        vorerst - ein Ende setzen.
        
        Mit Wilhelm
          Busch möchte man mitunter während der Lektüre ausrufen: "Aber
          wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!"
        Dass es mit einer derart schlimmen Person wie Katka ein schlimmes Ende
        nehmen wird, ist allem Anschein nach unausweichlich. Doch Kratochvil ist
        womöglich ein später Romantiker, und so wird der Hauptfigur eine zweite
        Chance in vielen Akten gewährt; sie erhält Gelegenheiten, sich zu
        läutern, auf labyrinthischen Pfaden, die durchaus keine irdischen sein
        müssen (aber sein können), aus dem Nichts in unterschiedlichen Stadien
        der Existenz an den immerwährenden Schauplatz Brünn zurückzukehren und
        an im Nachhinein entscheidend gewesenen Kreuzungen einen anderen Weg zu
        erkennen und auch zu wählen.
        Das klingt zwar einigermaßen kompliziert, aber Jiří Kratochvil meistert
        die knifflige Ausgangssituation, indem er manchen Dingen schlicht ihre
        Geheimnisse lässt.
        
        Im Abschnitt mit dem Titel "Die Trommel" ab Seite 115 verblüfft der
        Autor, der sich übrigens selten aber doch mit fettgedruckten Einschüben
        direkt in die Geschichte "einmischt", den Leser mit der ersten völlig
        unerwarteten Wendung, und es dauert eine kleine Weile, bis sich die
        Hauptfigur (und der Leser) Orientierung verschaffen kann.
        Eine allem Anschein nach eher nichtmenschliche Version Katkas, mit
        besonderen Fähigkeiten ausgestattet, allerdings empfindungslos, findet
        sich als Hausgehilfin bei ihrem nunmehrigen (und doch nur
        vorübergehenden) Unterkunftgeber, dem Möchtegern-Antiquitätenhändler
        Bobin Karpeta, mit dem sich beispielsweise folgender Dialog entspinnt:
        "Aber bedeutet das, dass Katka meine Existenz vor dem Tod und ich
          ihre Existenz nach dem Tod bin? Kann man das irgendwie so formulieren?
          (...)"
          "Na ja, so würd ich’s nicht formulieren, es ist alles komplizierter.
          Aber eines ist sicher, ihr seid jetzt beide zugleich hier, könnt euch
          dabei aber nie treffen."
        Dennoch kommt es im Verlauf der Geschichte zu Begegnungen und daraus
        resultierenden Beinahekatastrophen, und Katka muss sich, wie ein
        unfreiwilliger "Münchhausen", in einem langwierigen Prozess gleichsam am
        eigenen Schopf aus der Verdammnis ziehen.
        
        Einhörner hüten und andere Besonderheiten: Der lange Weg zur zweiten
          Chance.
        Weitere Stationen der "sukzessiven Vermenschlichung" und der
        kurioserweise damit einhergehenden Besserung sind:
        Ein altes, von einer "Kollektivgemeinschaft" Obdachloser
        besetztes Mietshaus in Komárov, wo Katka, unterdessen Gefährtin des
        Anführers dieser Gemeinschaft, plötzlich schrumpft, und ein im selben
        Haus befindliches Liliputkönigreich, seinerzeit unter Rudolf
          II. in Prag von einem Alchemisten erschaffen, bevölkert von
        "Rieseninsekten" und Menschen, klein wie Zinnsoldaten, wo allerdings
        gebärfähige Frauen Mangelware sind ("Zu Beginn des zwanzigsten
          Jahrhunderts beschlossen sie das bereits zu laute und verkehrsreiche
          Prag zu verlassen, das ihrem in erster Linie auf spirituelle Güter
          konzentrierten Leben nicht gut bekam. Nach langem Sondieren fiel die
          Wahl schließlich auf Brünn, eine zu jener Zeit noch sehr ruhige und
          verschlafene Stadt"). Doch weil das sonderbare Ausnahmewesen Katka
        nirgendwo dazugehören kann, wird es in die Makrowelt zurückversetzt und
        träumt eine Begegnung mit dem Autor, der ihr auch dies mitteilt: "Weißt
          du, du bist der vermessensten Versuchung unterlegen. Du hast dich
          entschieden, dein Schreiben allem Anderem überzuordnen, deinem und
          fremdem Schmerz, deinem und fremdem Leben. Die Vision der nächtlichen
          Sonne hat dich angezogen. Die Vision der Überquerung des Sees im
          Schein der Nachtsonne. Aber am Ufer wären blinde Vögel über dich
          hergefallen und hätten dir die Augen ausgehackt. Weil die Literatur
          der Weg durch ein Blindenlabyrinth ist. (...) Was jetzt mit dir
          geschieht, ist die Strafe für deine blasphemische Vermessenheit: Du
          bist jetzt verzaubert in Geschichten, das ist deine Falle, das ist
          deine Hölle, Schwesterchen."
        Danach erwacht Katka auf einer Parkbank und landet bei einem Greif
        namens Egon Treblík und dessen Sohn Tom, Besitzer einer Tischlerei und
        eines Begräbnisstudios, schließlich im September des Jahres 1992 mit
        plötzlich wiedererwachtem Gedächtnis und schallendem Lachen in einem
        Ahornsarg - als Menschenopfer ("Du dienst uns als Opfer für das
          Schwesterchen.")!
        Doch auch dies ist nicht das Ende! Wie es mit der abermals Mensch
        gewordenen Kateřina Káníčková danach weitergeht, sei hier nicht
        verraten; nur soviel: Katka tritt als Icherzählerin auf, ein
        Straßenmusikant spricht mit der Stimme des Schicksals, der Weg führt in
        die Weinstube "Zur ausgestopften Robbe", und das letzte Wort hat -
        natürlich - der Autor, der Gefangene seiner eigenen Geschichten, dem die
        ehrenvolle Aufgabe zukommt, den Kreis zu schließen (oder eben nicht) ...
        
        Zur Übersetzung ist anzumerken, dass die im Wiener Braumüller Verlag
        erschienene deutschsprachige Ausgabe gelegentlich für österreichische
        Leser befremdliche Wörter aufweist, beispielsweise "Klamotten",
        "Blaumann" und "quasselte".
        Einem echten Jiří Kratochvil können derlei Fehlgriffe jedoch nichts
        anhaben.
(kre; 10/2011)
Jiří Kratochvil: "Femme fatale"
        (Originaltitel "Femme fatale")
        Aus dem Tschechischen von Julia Hansen-Löve und Christa Rothmeier.
        Braumüller Verlag, 2011. 257 Seiten.
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 Jiří Kratochvil begann nach
        dem Studium in Brünn Mitte der Sechzigerjahre zu publizieren, 1968 bis
        1989 war er, wie viele tschechische Autoren, von einem
        Publikationsverbot betroffen. Kratochvil jedoch veröffentlichte weiter,
        in Untergrundverlagen - im "Samizdat". Der Prosaschriftsteller,
        Dramatiker, Essayist und Hörspielautor zählte in den Neunzigerjahren zu
        den bedeutendsten Vertretern der tschechischen Postmoderne. 1991 erhielt
        er den britischen "Tom-Stoppard-Preis", 1999 wurde er mit dem
        bedeutendsten Literaturpreis Tschechiens, dem "Jaroslav-Seifert-Preis",
        ausgezeichnet. Jiří Kratochvil lebt in Moravský Krumlov bei Brünn.
        
        Sieben
          weitere Bücher des Autors:
           
          "Das Versprechen des Architekten"
        Anfang der 1950er-Jahre: Eine junge Frau kommt nach dem Verhör durch die
        Geheimpolizei ums Leben. Sie zu rächen wird für ihren Bruder, den
        renommierten Architekten, zur bestimmenden Aufgabe, ein Kellergewölbe
        unter dem Zentrum von Brünn zum bizarren Ort der Vergeltung. Doch der
        private Rachefeldzug läuft aus dem Ruder und zeitigt absurde Folgen. Mit
        der Kriminalgeschichte vor politischem Hintergrund, die durchaus
        Parallelen zu Verbrechen der jüngeren Zeit aufweist, hat Kratochvil ein
        an Paradoxa reiches, labyrinthisches Gleichnis für eine grausame und
        abartig-absurde Zeit geschaffen. Ein autobiografisch inspiriertes und
        inszeniertes Spiel um die Themen Schuld und Strafe, Fiktion und
        Wirklichkeit mit Anregungen von Dürrenmatt
        und  Nabokov,
        Schnitzler
        und Le
          Corbusier. (Braumüller Verlag)
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"Die
            niederträchtige Boshaftigkeit des Seins"
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"Die
            Causa Neufundländer" 
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"Unsterbliche
            Geschichte oder Das Leben der Sonja Trotzkij-Sammler oder Karneval"
          
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"Der
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"Inmitten der Nacht
          Gesang"
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"Gute Nacht, süße Träume"
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