(...) Hatte nun Natalie schon früher einen Durst empfunden und hatte derselbe ihr Gespräch auf das Wasser gelenkt, oder war durch das Gespräch ein leichter Durst in ihr hervorgerufen worden: sie stand nun auf, nahm die Alabasterschale in die Hand, ließ sie sich in dem sanften Strahle füllen, setzte sie an ihre schönen Lippen, trank einen Teil des Wassers, ließ das übrige in das tiefere Becken fließen, stellte die leere Schale an ihren Platz und setzte sich wieder zu mir auf die Bank.
Mir war das Herz ein wenig gedrückt, und ich sagte: "Wenn wir beide das Schöne dieses Ortes betrachtet und wenn wir von ihm und von andern Dingen, auf die er uns führte, gerne gesprochen haben, so ist doch etwas in ihm, was mir Schmerz erregt."
"Was kann euch denn an diesem Orte Schmerz erregen?" fragte sie.
"Natalie", antwortete ich, "es ist jetzt ein Jahr, daß ihr mich an dieser Halle absichtlich gemieden habt. Ihr saßet auf derselben Bank, auf welcher ihr jetzt sitzet, ich stand im Garten, ihr tratet heraus und ginget von mir mit beeiligten Schritten in das Gebüsch."
Sie wendete ihr Angesicht gegen mich, sah mich mit den dunklen Augen an und sagte: "Dessen erinnert euch, und das macht euch Schmerz?"
"Es macht mir jetzt im Rückblicke Schmerz und hat ihn mir damals gemacht", antwortete ich.
"Ihr habt mich ja aber auch gemieden", sagte sie.
"Ich hielt mich ferne, um nicht den Schein zu haben, als dränge ich mich zu euch", entgegnete ich.
"War ich euch denn von einer Bedeutung?" fragte sie.
"Natalie", antwortete ich, "ich habe eine Schwester, die ich im höchsten Maße liebe, ich habe viele Mädchen in unserer Stadt und in dem Lande kennen gelernt; aber keines, selbst nicht meine Schwester, achte ich so hoch wie euch, keines ist mir stets so gegenwärtig und erfüllt mein ganzes Wesen wie ihr."
Bei diesen Worten traten die Tränen aus ihren Augen und flossen über ihre Wangen herab.
Ich erstaunte, ich blickte sie an und sagte: "Wenn diese schönen Tropfen sprechen, Natalie, sagen sie, daß ihr mir auch ein wenig gut seid?"
"Wie meinem Leben", antwortete sie.
Ich erstaunte noch mehr und sprach: "Wie kann es denn sein, ich habe es nicht geglaubt."
"Ich habe es auch von euch nicht geglaubt", erwiderte sie.
"Ihr konntet es leicht wissen", sagte ich. "Ihr seid so gut, so rein, so einfach. So seid ihr vor mir gewandelt, ihr waret mir begreiflich wie das Blau des Himmels, und eure Seele erschien mir so tief wie das Blau des Himmels tief ist. Ich habe euch mehrere Jahre gekannt, ihr waret stets bedeutend vor der herrlichen Gestalt eurer Mutter und der eures ehrwürdigen Freundes, ihr waret heute, wie ihr gestern gewesen waret und morgen wie heute, und so habe ich euch in meine Seele genommen zu denen, die ich dort liebe, zu Vater, Mutter, Schwester - nein, Natalie, noch tiefer, tiefer -"
Sie sah mich bei diesen Worten sehr freundlich an, ihre Tränen flossen noch häufiger, und sie reichte mir ihre Hand herüber.
Ich faßte ihre Hand, ich konnte nichts sagen und blickte sie nur an.
Nach mehreren Augenblicken ließ ich ihre Hand los und sagte: "Natalie, es ist mir nicht begreiflich, wie ist es denn möglich, daß ihr mir gut seid, mir, der gar nichts ist und nichts bedeutet?"
"Ihr wißt nicht, wer ihr seid", antwortete sie. "Es ist gekommen, wie es kommen mußte. Wir haben viele Zeit in der Stadt zugebracht, wir sind oft den ganzen Winter in derselben gewesen, wir haben Reisen gemacht, haben verschiedene Länder und Städte gesehen, wir sind in London, Paris und Rom gewesen. Ich habe viele junge Männer kennen gelernt. Darunter sind wichtige und bedeutende gewesen. Ich habe gesehen, daß mancher Anteil an mir nahm; aber es hat mich eingeschüchtert, und wenn einer durch sprechende Blicke oder durch andere Merkmale es mir näher legte, so entstand eine Angst in mir, und ich mußte mich nur noch ferner halten. Wir gingen wieder in die Heimat zurück. Da kamet ihr eines Sommers in den Asperhof, und ich sah euch. Ihr kamet im nächsten Sommer wieder. Ihr waret ohne Anspruch, ich sah, wie ihr die Dinge dieser Erde liebtet, wie ihr ihnen nach ginget und wie ihr sie in eurer Wissenschaft hegtet - ich sah, wie ihr meine Mutter verehrtet, unsern Freund hochachtetet, den Knaben Gustav beinahe liebtet, von eurem Vater, eurer Mutter und eurer Schwester nur mit Ehrerbietung sprachet, und da - - da -"
"Da, Natalie?"
"Da liebte ich euch, weil ihr so einfach, so gut und doch so ernst seid."
"Und ich liebte euch mehr, als ich je irgend ein Ding dieser Erde zu lieben vermochte."
"Ich habe manchen Schmerz um euch empfunden, wenn ich in den Feldern herumging."
"Ich habe es ja nicht gewußt, Natalie, und weil ich es nicht wußte, so mußte ich mein Inneres verbergen und gegen jedermann schweigen, gegen den Vater, gegen die Mutter, gegen die Schwester und sogar gegen mich. Ich bin fortgefahren, das zu tun, was ich für meine Pflicht erachtete, ich bin in die Berge gegangen, habe mir ihre Zusammensetzung aufgeschrieben, habe Gesteine gesammelt und Seen gemessen, ich bin auf den Rat eures Freundes einen Sommer beschäftigungslos in dem Asperhofe gewesen, bin dann wieder in die Wildnis gegangen und
zu der Grenze des Eises emporgestiegen. Ich konnte nur eure Mutter, euren Freund und euren Bruder immer wärmer lieben: aber, Natalie, wenn ich auf den Höhen der Berge war, habe ich euer Bild in dem heitern Himmel gesehen, der über mir ausgespannt war, wenn ich auf die festen, starren Felsen blickte, so erblickte ich es auch in dem Dufte, der vor denselben webte, wenn ich auf die Länder der Menschen hinausschaute, so war es in der Stille, die über der Welt gelagert war, und wenn ich zu Hause in die Züge der Meinigen blickte, so schwebte es auch in denen."
"Und nun hat sich alles recht gelöset."
"Es hat sich wohl gelöset, meine liebe, liebe Natalie."
"Mein teurer Freund!"
Wir reichten uns bei diesen Worten die Hände wieder und saßen schweigend da.


(aus "Der Nachsommer" von Adalbert Stifter)
... "Der Nachsommer" bestellen ...