(...)
Er bat darum, ihm das Haus zu zeigen. Er wolle es kennen lernen. Frau Bovary hatte nichts dagegen. Sie gingen beide zur Türe, da trat Karl ein.
»Guten Tag, Doktor!« begrüßte ihn Rudolf.
Der Arzt, den der ihm nicht zukommende akademische Titel schmeichelte, stotterte ein paar verbindliche Worte. Währenddessen wurde der andre wieder völlig Herr der Situation.
»Die gnädige Frau hat mir soeben von ihrem Befinden erzählt….«, begann er.
Karl unterbrach ihn. Er sei in der Tat äußerst besorgt. Seine Frau habe bereits einmal an ähnlichen Zuständen gelitten.
Rudolf fragte, ob da nicht Reiten gut wäre.
»Gewiß! Ganz ausgezeichnet! Vortrefflich! Das ist wirklich ein guter Rat! Den solltest du tatsächlich befolgen, Emma!«
Sie wandte ein, daß sie kein Pferd habe, aber Rudolf bot ihr eins an. Sie lehnte sein Anerbieten ab, und er drang nicht weiter in sie. Dann erzählte er – um seinen Besuch zu motivieren – , sein Knecht, der Mann, dem Karl neulich zur Ader gelassen habe, leide immer noch an Schwindelanfällen.
»Ich werde mal bei Ihnen auf dem Gute vorsprechen«, sagte Bovary.
»Nein, nein! Ich schicke ihn lieber her. Wir kommen wieder zusammen. Das ist bequemer für Sie!«
»Sehr gütig! Ganz wie Sie wünschen!«
Als das Ehepaar dann allein war, fragte Karl:
»Warum hast du eigentlich das Angebot des Herrn Boulanger abgelehnt? Es war doch sehr liebenswürdig!«
Emma tat, als ob sie schmollte; sie wußte nicht gleich, was sie sagen sollte, und schließlich erklärte sie, die Leute könnten es »komisch« finden.
»Ich pfeif auf die Leute!« sagte Karl und machte eine verächtliche Gebärde. »Die Gesundheit ist tausendmal mehr wert! Das war nicht richtig von dir!«
»Aber ich habe doch auch kein Reitkleid!«
»Dann mußt du dir eins bestellen!«
Das Reitkleid gab den Ausschlag.
Als es fertig war, schrieb Bovary an Boulanger, seine Frau stehe ihm zur Verfügung. Sie nähme sein gütiges Anerbieten an.

Andern Tags um zwölf Uhr hielt Rudolf mit zwei Reitpferden vor dem Hause des Arztes. Das eine trug einen Damensattel aus Wildleder und einen roten Stirnriemen. Er selbst hatte hohe Reitstiefel aus feinstem weichen Leder an. Er nahm an, daß Emma solche gewiß noch nie gesehen hatte; und in der Tat war sie über sein Aussehen entzückt, als sie ihn in seinem langen dunkelbraunen Samtrock und den weißen Breeches an der Türe erblickte. Sie hatte auf ihn gewartet und war bereit.
Justin stahl sich aus der Apotheke. Er mußte sie sehen. Auch den Apotheker litt es nicht in seinem Laden. Er gab Rudolf allerlei gute Ratschläge.
»Es passiert so leicht ein Malheur!« sagte er. »Reiten Sie vorsichtig! Sind die Tiere fromm?«
Emma vernahm über sich ein Geräusch. Es war Felicie, die mit der Hand gegen eine Fensterscheibe trommelte, um der kleinen Berta einen Spaß zu bereiten. Das Kind warf der Mutter ein Kußhändchen zu. Die Reiterin winkte mit der Gerte.
»Viel Vergnügen!« rief Homais. »Ja recht vorsichtig! Recht vorsichtig!«
Er sah den Wegreitenden noch lange nach und schwenkte grüßend mit seiner Zeitung.

Sobald Emmas Pferd weichen Boden unter sich fühlte, fing es von selbst an zu galoppieren. Da sprengte auch Rudolf sein Pferd an. Hin und wieder wechselten sie ein Wort. Das Kinn ein wenig eingezogen, die hochgenommene linke Hand mit den Zügeln nach dem Widerrist zu vorhaltend, so überließ sie sich der wiegenden Galoppade.
Es ging die Anhöhe hinauf, immer im Galopp. Oben parierten die Gäule plötzlich. Emmas langer blauer Schleier flatterte weiter.
Es war einer der ersten Oktobertage. Nebel lag über den Fluren. In langen Schwaden beengten sie den Gesichtskreis und ließen die Hügel nur in Umrißlinien erkennen. Hin und wieder rissen die Nebel auseinander, flogen wie in Fetzen auf und zerstoben. Dann erblickte man durch die Lücken in der Ferne die Dächer von Yonville im Sonnenscheine, die Gärten am Bachufer, die Gehöfte und Hecken und den Kirchturm. Emma gab sich Mühe, ihr Haus herauszufinden, und noch nie war ihr der armselige Ort, in dem sie da lebte, so klein vorgekommen. Von der Höhe, auf der sie hielten, glich die ganze Niederung einem ungeheuer großen, fahlen, verdunstenden See. Die buschigen Bäume, die hie und da aus ihm herausragten, sahen wie schwarze Riffe aus, und die Reihen der hohen Pappeln wie lange Wellenzüge, die der Wind kräuselt.
Über dem Rasen unter den Tannen sickerte braunes Licht durch die laue Luft. Der Boden, rötlich wie zerblätterter Tabak, dämpfte die Tritte. Abgefallene Tannenzapfen rollten über den Weg, von den Hufen berührt.
Rudolf und Emma ritten den Waldsaum entlang. Ab und zu sah sie zur Seite, um seinem Blicke zu entgehen; dann glitten die Stämme der Bäume, einer nach dem andern, so rasch an ihr vorüber, daß die unaufhörliche Wiederholung sie halb schwindlig machte. Die Pferde keuchten.
Gerade, als sie in den Wald kamen, trat die Sonne hervor.
»Gott ist mit uns!« sagte Rudolf.
»Glauben Sie denn an ihn?« fragte sie.
»Galopp! Galopp!« rief er von neuem und schnalzte mit der Zunge. Beide Tiere gehorchten.
Hohe Farne, wie sie zu beiden Seiten des Pfades standen, verfingen sich in Emmas Steigbügel. Rudolf, der zur Linken Emmas ritt, bückte sich jedesmal im Weiterreiten und befreite sie wieder. Ein paarmal galoppierte er ganz dicht neben ihr hin, um überhängende Zweige von ihr abzuwehren; dann fühlte sie, wie sein rechtes Knie ihr linkes Bein berührte.
Inzwischen war der Himmel ganz blau geworden. Kein Blatt rührte sich. Sie kamen über weite Felder, ganz voll blühenden Heidekrauts, und hie und da leuchteten unter dem grauen und gelben und goldbraunen Blätterwerk der Bäume Flecke von wilden Veilchen auf. Im Gebüsch regte sich öfters leiser Flügelschlag. Leise krächzend flogen Raben um die Eichen.
Sie saßen ab. Rudolf band die Pferde an. Emma schritt ihm voraus, den Weg weiter, über Moos in alten Wagenspuren. Ihr langes Reitkleid erschwerte ihr das Gehen, obwohl sie es mit der einen Hand aufgerafft hatte. Rudolf ging hinter ihr. Er sah zwischen dem schwarzen Tuch und den schwarzen Stiefeln das lockende Weiß ihres Strumpfes, das er wie ein Stück Nacktheit empfand.
Emma blieb stehen.
»Ich bin müde!« sagte sie.
»Gehen wir weiter! Versuchen Sie es!« bat er. »Mut!«
Hundert Schritte weiter blieb sie abermals stehen. Der blaue Schleier, der ihr von ihrem Herrenhute bis zu den Hüften herabwallte, übergoß ihr Gesicht mit bläulichem Licht. Es sah aus, wie in das Blau des Himmels getaucht.
»Wohin gehen wir denn?«
Er gab keine Antwort. Sie atmete heftig. Rudolf hielt Umschau und biß sich in den Schnurrbart. Sie standen in einer Lichtung, in der gefällte Baumstämme dalagen. Sie setzten sich beide auf einen.
Von neuem begann Rudolf, von seiner Liebe zu reden. Um Emma nicht durch Überschwenglichkeit zu verprellen, blieb er ruhig, ernst, schwermütig. Sie hörte ihm gesenkten Hauptes zu, während sie mit der Spitze ihres Stiefels den Waldboden aufscharrte. Aber bei dem Satze:
»Sind unsre beiden Lebenspfade nunmehr nicht in einen zusammengelaufen?« unterbrach sie ihn:
»Nein! Das wissen Sie doch! Es ist unmöglich!«
Sie stand auf und wollte gehen. Er umfaßte ihr Handgelenk, und so blieb sie. Sie sah ihn eine kleine Weile liebevoll und mit feucht schimmernden Augen an, dann sagte sie hastig:
»Genug! Reden wir nicht mehr davon! Gehen wir zurück zu unsern Pferden!«
Rudolf machte eine Bewegung zornigen Ärgers. Sie wiederholte:
»Gehen wir zu unsern Pferden!«
Da lächelte er seltsam und näherte sich ihr mit vorgestreckten Händen, zusammengebissenen Zähnen und starrem Blicke. Sie wich zitternd zurück und stammelte:
»Ich fürchte mich vor Ihnen! Sie tun mir weh! Gehen wir zurück!«
»Wenn es sein muß!« gab er zur Antwort. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich. Er sah wieder ehrerbietig, zärtlich, schüchtern aus.
Emma reichte ihm den Arm. Sie traten den Rückweg an.
»Was hatten Sie denn vorhin?« fragte er. »Was war es? Ich habe Sie nicht begriffen. Gewiß haben Sie mich mißverstanden. Sie thronen in meinem Herzen wie eine Madonna, hoch und hehr und unerreichbar! Aber ich kann ohne Sie nicht leben! Ich muß Ihre Augen sehen, Ihre Stimme hören, Ihre Gedanken wissen! Seien Sie meine Freundin, meine Schwester, mein Schutzengel!«
Er schlang seinen Arm um ihre Taille. Sie versuchte, sich ihm sanft zu entwinden, aber er ließ sie nicht los. So gingen sie nebeneinander hin. Da hörten sie ihre Pferde, die Blätter von den Bäumen rupften.
»Noch nicht!« bat Rudolf. »Reiten wir noch nicht zurück! Bleiben Sie!«
Er zog sie mit sich vom Wege ab in die Nähe eines kleinen Weihers, dessen Spiegel mit Wasserlinsen bedeckt war. Zwischen Schilf träumten verwelkte Wasserrosen. Vor dem Geräusch ihrer Schritte im Gras hüpften die Frösche davon und verschwanden.
»Es ist nicht recht von mir … es ist nicht recht von mir! Ich bin toll, daß ich auf Sie höre!«
»Warum? Emma! Emma!«
»Ach, Rudolf!« flüsterte die junge Frau, indem sie sich an ihn anschmiegte.
Das Tuch ihres Jacketts lag dicht am Samt seines Rockes. Sie bog ihren weißen Hals zurück, den ein Seufzer schwellte. Halb ohnmächtig und tränenüberströmt, die Hände auf ihr Gesicht pressend und am ganzen Leib zitternd, gab sie sich ihm hin…. (...)


(aus "Madame Bovary" von Gustave Flaubert
aus dem Französischen von Arthur Schurig)
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