Es war still auf der Straße und trotz der Morgensonne kühl. Ich klopfte mir die Asche vom Blazer, rieb einen Kotzefleck vom Schuh und versuchte mir den Anschein zu geben, als wäre es ganz selbstverständlich, so früh am Morgen durch Amsterdam zu laufen. Meine Muskeln taten weh, innen und außen. Wenn man mir nur nichts ansah. Bald würde ich diese Stadt, und diese Nacht, von mir abwaschen und ich würde eifrig lernen, Laurence Olivier hören, mich auf meine Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule konzentrieren - schöne Sätze, schöne Worte, die Schönheit war meine einzige Rettung.

Wo lag wohl der Bahnhof? Hinter den Häusern kreischte eine Straßenbahn. Ich folgte meinen Ohren und kam zu einer breiten Straße mit zwei Schienen im Asphalt; denen folgte ich auf gut Glück. Kurz darauf roch ich die salzige Luft des Wassers vom IJ und sah das Schieferdach des Bahnhofs vor dem blauen Himmel glänzen. In den Bäumen vor dem Eingang sangen die Stare. Aus einer Straßenbahn stiegen die ersten Fahrgäste. An der Fassade lehnten zwei Stadtstreicher in der Sonne. Sie tranken Bier aus der Flasche und schrieen den Passanten Zoten nach: "He, ihr da, dort läuft 'ne Hure, die hat die ganze Nacht nix verdient, die kannste ficken für 'nen Fünfer." 
Auch ich musste dran glauben. "He, du da, haste was Bares?" 
Ich ließ sie links liegen. 
"Kannste nich höflich grüßen?" 
"Guten Morgen, meine Herren." Gespreizter ging's nicht. Ein Mann kam mit einer Flasche in der Hand auf mich zu. Hatte ich vielleicht was zum Rauchen? Ohne zu reagieren, steuerte ich in die Halle zu den Schaltern, aber der Mann folgte mir bettelnd. Der Schalterbeamte pulte Gulden aus einer Geldrolle. Ich klopfte gehetzt an die Scheibe. Das Schild "Geschlossen" klappte vor meiner Nase herunter. Der Penner zog an meiner Jacke. 
"Bestimmt Student?" 
Mein Schweigen gefiel ihm nicht. 
"Entschuldigen Sie", sagte ich und wollte zu den Zügen rennen. Er hielt mich fest. Ein Schubs, seine Bierflasche fiel zu Boden - Schaum und Fluchen. Auf den Lärm hin eilten seine Kumpane herbei. 
"Hast se wohl nich mehr alle, du Arschloch!" 
Ich hastete zum letzten Bahnsteig, dem festen Abfahrtsgleis für Halfstad. Eine Bierflasche flog mir zwischen die Beine. Schritte hallten in der Unterführung wider. War hier denn kein Schaffner? Meine Verfolger brüllten immer lauter. Dort zersplitterte noch eine Flasche. Ich raste die Treppe hinauf, Gott sei Dank, ein abfahrbereiter Zug und Menschen auf dem Bahnsteig, endlich, ein Mann und eine Frau in Kniebundhosen, die Schultertasche vorne auf dem Bauch. Sie wichen zurück, als sie mich heranstürmen sahen, der Mann beäugte mich, als wäre ich der Halunke. Eine Abteiltür stand offen. 
"Hallo, Vorsicht!" rief eine gepflegte Stimme. 
Ich sprang in den Waggon und spürte eine Flasche an meinem Oberschenkel vorbeisausen. 
"Was sind denn das für Manieren, he, so geht das nicht ..."

Ab in die Toilette und den Hebel vorgelegt. Ich lauschte an der Tür. "Alles in Ordnung?" fragte die Stimme. Jemand rüttelte an der Klinke, aber ich gab keinen Mucks von mir. Scherben wurden zusammengekehrt. Keuchend stand ich vor dem Spiegel und betrachtete mich erschrocken ... so grau ... mein Hemdkragen war schmutzig. 
"Sind Sie da drinnen?" 
"Ja, vielen Dank." Mein Kinn war rot und rau, am Hals hatte ich einen lila Knutschfleck. Selbst bei geschlossenem Kragenknopf war er zu sehen. Auch durch Reiben ging er nicht weg. Der Zug setzte sich in Bewegung. Der Schaffner klopfte an die Toilettentür. "Den Fahrschein, bitte." Ja, sie waren weg. Nein, ich hatte noch keine Fahrkarte. Der Schaffner stand mit einem Dietrich in der Hand in einer Bierlache und erwartete mich. Mit dem Fuß schob er die letzten Scherben zur Seite. 
"Einmal Halfstad, erster Klasse", sagte ich arrogant. Nach einer solchen Nacht wollte ich so weich wie möglich sitzen. Aber der grüne Plüsch war nicht weich genug, etwas piekte. Ich befühlte die Sitzfläche, es klebte ... Blut. Verdammt, auch an der Hose, unter dem Hosenboden. Ich krümmte und wand mich wie ein Aal ... ein weiteres Souvenir? Ich ging wieder zur Toilette und drehte mich vor dem Spiegel hin und her. Meine Hose hatte einen Riss. Erst als ich die Fransen sah, fühlte ich den Schmerz. Ich schaffte es kaum die Bahnsteigtreppe von Halfstad hinunter. Mein Hosenbein war blutverkrustet. Der Taxifahrer wollte mich nicht mitnehmen. Und wenn ich mich auf meine Jacke setze? Einverstanden, aber dann zum doppelten Tarif.

Als ich die Haustür aufschloss, hatte ich noch keine Ahnung, welche Ausrede ich drinnen vorbringen sollte. Meine Mutter war schon aufgestanden und räumte die Küche auf. Ich schlich ins Badezimmer
"Wo kommst du denn her?" rief sie. "Ich habe dich heute nacht nicht nach Hause kommen hören." 
Das Badezimmer war besetzt. Saskia, ja, die Mädchen waren da. Gleich war das Frühstück fertig. Was war denn nur mit mir passiert? Ich hielt die Hand an meinen Hals. Der Kuss, sie durfte den Knutschfleck nicht sehen.

"Du bist ja ganz blutig, deine Schuhe, der Teppich, he, verflixt noch mal, pass doch auf. Saskia, aufmachen, gib mir den Putzlappen. He, pass doch endlich auf, der ganze Teppichboden ist voll Blut." 
Saskia kam mit einem Handtuch aus dem Badezimmer. 
"Er blutet", rief meine Mutter. 
"Zeig her", rief Saskia. Sie zog an meiner Jacke und vollführte mit mir eine Vierteldrehung. 
"Raus aus der Hose. Wo ist das Jod?" 
Ich rollte das Hosenbein hoch, kam aber nur bis zum Knie. 
"Umdrehen", schnauzte Saskia und zerrte an meinem Gürtel. 
Ich hinkte zum Küchenstuhl. 
"Lass mich doch. Es ist nichts." 
"Richtiges Blut", sagte meine Schwester. 
Ich setzte mich und holte tief Luft. 
"Zieh ihm die Schuhe aus", kommandierte meine Mutter. "Sonst trägt er es dort auch noch rein." 
Sie rannte ins Badezimmer und füllte einen Eimer. Ich gab den Widerstand auf. Meine Schwester bückte sich, um mir die Schnürsenkel aufzuknüpfen. 
"Ich glaube, in meinem Oberschenkel steckt eine Glasscherbe." 
"Zieh deine Hose aus", sagte sie. Als der Reißverschluss halb offen war, spürte ich plötzlich die zarte Seide ihres Schlüpfers. 
"Nein", sagte ich, "es tut viel zu weh." 
"Raus." 
"Nein." 
"Du musst. Mama, ruf den Arzt."
"Es ist nur eine Schramme. Ich habe mir das Bein am Glas vom Wartehäuschen an der Bushaltestelle aufgerissen." 
"Bus?" rief meine Mutter. "Wo kommst du denn her?" 
"Lass mich in Ruhe." 
"Er riecht nach Bier."
Meine Schwester beugte sich über mich und zerrte an meinen Hosenbeinen. 
"Nein, nicht." 
"Stell dich nicht an." 
"Geh weg, geh weg." 

Meine zweite Schwester, Ada, streckte schläfrig den Kopf aus dem Besucherzimmer. 
"Hört mal, ich bin zum Ausschlafen hergekommen." 
Warum mussten ausgerechnet jetzt alle da sein? 
"Wo hast du dich herumgetrieben?" fragte meine Mutter. 
"In Amsterdam." 

Beichte es, dachte ich, erzähl es ihnen. Jag ihnen einen Schrecken ein. Der Wasserhahn lief, meine Hände wurden mit einem lauwarmen Geschirrtuch saubergerieben. Der Reißverschluss wurde geöffnet, die Hose rutschte mir von den Beinen. Ich zog mein Hemd über die Scham. Saskia ergriff meinen Schuh und hob mein Bein. Mein Gesäß bewegte sich nach vorn. 
"Was!" rief sie, "was hast du da an, wem gehört das? Oh, nein! Verdammt noch mal, das gehört mir, das ist mein Slip! Du fieses Ferkel, du hast meinen Slip an." 
Ich bedeckte meine Schande, aber sie riss mir fast das Hemd vom Leib. 
"Er gehört mir, mir", kreischte sie, "den habe ich den ganzen Morgen gesucht." Sie zerrte an dem Hosengummi. 
"Da, schau her, er ist kaputt. Das wirst du bezahlen, du Scheißkerl." 
"Lass los, du blöde Gans." 
Sie trat einen Schritt zurück, stemmte die Hände in die Seiten und legte die größtmögliche Verachtung in ihren Blick. 
"Das werde ich mal deiner Mutter flüstern. Dann hört sie endlich, was für ein Schwein sie großgezogen hat. Ich weiß das ja schon längst, und Ada auch. Alle wissen es außer deiner ahnungslosen Mutter."
"Saskia, hör auf", beschwichtigte meine Mutter. 
"Er ist schwul." 
"Sei still, Saskia!" 
"Dein Sohn ist ein fieser, mieser, dreckiger Schwuler."

Stille. Nur der Putzlappen in Mutters Hand tropfte. Der Hass zwischen Bruder und Schwester brannte sich tief ein. Wir ließen die ätzende Säure in uns einwirken. Für immer.

"Es wäre wirklich sehr schlimm, wenn das wahr wäre", sagte meine Mutter. 
Dann beseitigte sie schweigend die Spuren. Saskia rannte schluchzend ins Besucherzimmer. 
"Mich könnt ihr vergessen", sagte Ada. 
"Zieh das Ding aus", sagte meine Mutter. 
Sie musterte es mit dem Blick der erfahrenen Wäscherin und warf es mit einem Schulterzucken in den Abfalleimer. 
"Ende der Vorstellung."


(Aus dem Roman "Doppelliebe. Geschichte eines jungen Mannes" 
von Adriaan van Dis.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas.
)

Das Porträt eines jungen Mannes im Amsterdam der 1970er Jahre: Als Dichter, Dieb, Revoluzzer und Gigolo wechselt er, der nicht weiß, ob er Männer oder Frauen liebt, zwischen den Lagern hin und her wie ein Spion. Alles dreht sich um die eine Frage: Wie will ich leben? Ein gnadenloser Rückblick auf die eigene Education sentimentale des Autors.
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