(...)
Menelaus

Die Tochter meines Bruders am Altar
Um meiner Heirath willen hingeschlachtet –
Nein, das erbarmt mich, wenn ich nur dran denke!
Was hat das Kind mit dieser Helena
Zu schaffen? Die Armee der Griechen mag
Nach Hause gehn. Drum, lieber Bruder, höre
Doch auf, in Thränen dich zu baden und
Auch mir die Thränen in das Aug zu treiben.
Will ein Orakel an dein Kind – das hat
Mit mir nichts mehr zu schaffen. Meinen Antheil
Erlass' ich dir. Es siegt die Bruderliebe.
Entsag' ich einem grausamen Begehren,
Was hab' ich mehr als meine Pflicht gethan?
Ein guter Mann wird stets das Beßre wählen.

Chor
Das nenn' ich brav gedacht und schön – und wie
Man denken soll in Tantalus' Geschlechte!
Du zeigst dich deiner Ahnherrn werth, Atride.

Agamemnon
Jetzt redest du, wie einem Bruder ziemt.
Du überraschest mich. Ich muß dich loben.

Menelaus
Lieb' und Gewinnsucht mögen oft genug
Die Eintracht stören zwischen Brüdern. Mich
Hat's jederzeit empört, wenn Blutsverwandte
Das Leben wechselseitig sich verbittern.

Agamemnon
Wahr!
Doch, ach! dies wendet die entsetzliche

Nothwendigkeit nicht ab. Ich muß, ich muß
Die Hände tauchen in ihr Blut.

Menelaus
Du mußt?
Wer kann dich nöthigen, dein eigen Kind
Zu morden?

Agamemnon
Die versammelte Armee
Der Griechen kann es.

Menelaus
Nimmermehr, wenn du
Nach Argos sie zurücke sendest.

Agamemnon
Laß
Auch sein, daß mir's von dieser Seite glückte,
Das Heer zu hintergehn – von einer andern –

Menelaus
Von welcher andern? Allzusehr muß man
Den großen Haufen auch nicht fürchten.

Agamemnon
Bald
Wird er von Kalchas das Orakel hören.

Menelaus
Laß dein Geheimniß mit dem Priester sterben!
Nichts ist ja leichter.

Agamemnon
Eine ehrbegier'ge
Und schlimme Menschenart sind diese Priester.

Menelaus
Nichts sind sie, und zu nichts sind sie vorhanden.

Agamemnon
Und – eben fällt mir's ein – was wir am meisten
Zu fürchten haben – davon schweigst du ganz.

Menelaus
Entdecke mir's, so weiß ich's.

Agamemnon
Da ist ein
Gewisser Sohn des Sisyphus – der weiß

Schon um die Sache.

Menelaus
Der kann uns nicht schaden!

Agamemnon
Du kennst sein listig überredend Wesen
Und seinen Einfluß auf das Volk.

Menelaus
Und, was
Noch mehr ist, seinen Ehrgeiz ohne Grenzen.

Agamemnon
Nun denke dir Ulyssen, wie er laut
Vor allen Griechen das Orakel offenbart,
Das Kalchas uns verkündigt, offenbart,
Wie ich der Göttin meine Tochter erst
Versprach und jetzt mein Wort zurücke nehme.
Durch mächt'ge Rede reißt der Plauderer
Das ganze Lager wüthend fort, erst mich,
Dann dich und dann die Jungfrau zu erwürgen.
Laß auch nach Argos mich entkommen – mit
Vereinten Schaaren fallen sie auf mich,
Zerstören feindlich die Cyklopenstadt
Und machen meinem Reiche dort ein Ende.
Du weißt mein Elend – Götter, wozu bringt
Ihr mich in diesem fürchterlichen Drange!
Den einz'gen Dienst noch, lieber Menelaus,
Erweise mir – gehst du durchs Lager, suche
Ja zu verhüten, daß der Mutter nicht
Kund werde, was hier vorgehn soll, bevor
Der Erebus sein Opfer hat – so bin ich
Doch mit der kleinsten Thränensumme elend.


(aus "Iphigenie in Aulis" von Euripides;
übersetzt von Friedrich Schiller)
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