Die Hochzeit

Es war Mai, oder auch Juni, auf jeden Fall war der Sommer nah, und in wenigen Wochen würde der Krieg ausbrechen, was damals allerdings niemand wußte, und selbst wer ihn kommen sah, konnte es nicht recht glauben und auch niemand anders davon überzeugen, denn die Furcht verdrängt alle Vorahnungen. Es war also Mai, oder auch Juni, die Zeit der Hochzeiten. Die Wiesen an den Ufern des Bidasoa leuchteten grell im Mittagslicht. Undurchdringlich dunkel waren die Berge, und der Flußspiegel sank bis auf seinen niedrigsten Stand. Auf der Landstraße von Irún nach Elizondo, in einer der engsten Kurven, die mit traurigster Erinnerung behaftet war, entfalteten die großen Rosen an der sonnigen Fassade der Bar Etxarri ihre Pracht. Wer von Rosen etwas versteht, wird bestätigen, daß großblütige Rosen einige Jahre lang in Mode waren, und in den Gärten blühten Rosen, üppig wie Ammenbrüste, von denen irgendein Schößling hier Wurzeln geschlagen hatte, an der Fassade dieses Hauses am Fluß, das nach hinten auf eine Wiese ging und bis ins Jahr 1924 eine Schenke für Maultiertreiber und Fuhrleute gewesen war und später, als die Straße um das Jahr 1933 teils gepflastert, teils asphaltiert wurde, eine Raststelle für Lastwagen und den Überlandverkehr. Zu jener Zeit waren die Rosen mit großen Blüten bereits aus der Mode gekommen, und jeder, der vorbeikam, war überrascht von den großen Rosen an der Bar der Etxarris. Damals hatte man in den Gärten die zierlichen Teerosen.

Drei Männer in Hochzeitsaufzug fuhren in einem schwarzen Citroën 11 CV vor, frisch gewaschen, am Tag zuvor oder am selben Tag, so spiegelte das Chrom, glänzte die Karosserie vom Wachs, blendete die Windschutzscheibe. Die Weißwandreifen, bei jenem Modell schon selten, schienen mit Zahnpasta geschrubbt. Nur der Staub der Landstraße an jenem Mittag im Frühsommer überzog die Kotflügel mit einem zarten samtenen Schleier. Die Insassen fuhren mit heruntergekurbelten Fenstern, damit Luft hereinkam, und stiegen vor der Tür der Bar aus. Einer der Herren war ein reicher Mann aus Vera de Bidasoa. Über die anderen beiden ließ sich nichts sagen. Der Wirt der Bar Etxarri kannte den reichen Mann aus Vera. Er war der Besitzer eines Eisenwarenladens und zur Hälfte Anteilseigner einer Papierfabrik.

Die drei Männer in ihren Hochzeitsanzügen traten in das Lokal und wischten sich mit den Taschentüchern über die Stirn. „Bringen Sie mir ein Glas Wasser“, sagte der Reiche aus Vera, groß und dick, und ging durch das Halbdunkel des Raums direkt auf die Toilettentür zu. Die anderen beiden Männer traten an die Theke und verscheuchten die Fliegen. Der Wirt der Bar Etxarri hatte immer eine doppelläufige Flinte, geladen mit zwei Patronen, griffbereit unter dem Tresen. Jetzt nahm er drei Gläser aus dem Wandschrank. Er dachte, die Herren führen vielleicht zu einer Hochzeit nach Lesaka oder Irún, denn nur für eine Hochzeit würde jemand sein Auto so auf Hochglanz polieren. Und jemanden, der zu einer Hochzeit fuhr, würde man wiederum nicht als gefährlich einschätzen, schließlich werden Männer eher auf dem Rückweg von einer Hochzeit gefährlich, nach dem Tanzen und Trinken und Witzereißen, und also verschwendete der Wirt keinen Gedanken an seine geladene Flinte. Er ließ das Wasser laufen, damit es frischer aus dem Tank kam, und stellte die drei Gläser auf den Tresen. Seit der moderne Tank eingebaut worden war, schmeckte das Wasser der Schenke nach Eisen, wegen der Rohre oder des Blechtanks, aber viele Leute mochten den Geschmack, und vielleicht war es auch noch gut für die Knochen und für die Zähne. Einer der Männer trank von dem Wasser, noch bevor der reiche Mann aus Vera zurückkam, und schnalzte genüßlich mit der Zunge. (...)


aus "Fremdes Blut" von Manuel de Lope
Aus d. Spanischen von Stefanie Gerhold
Feiner, kalter Nebel bedeckt die kahlen Bäume, die erstarrte Landschaft, unter Schnee und Reif verborgen, leuchtet klar und hell – dieser Winter des Jahres 1936 ist wie immer: Nur etwas ist anders in jenem Winter. Unbeleuchtete Lastwagen und endlose Karawanen von Maultieren transportieren des Nachts Munition und Waffen. Wie Todesboten ziehen diese langsamen Prozessionen vorbei – der Beginn eines Krieges. Die Menschen sind auf der Flucht und schleppen ihr wertvollstes Gut mit sich: ihr Leben.
Und so dringt der Schmerz allmählich in jeden Winkel und in jedes Dorf, in jedes Haus und in das Leben jedes einzelnen. Aber doch geschehen noch ganz andere Dinge. Wichtige Dinge, die ihre Bedeutung unter den dräuenden Schatten des Krieges verlieren, um erst viel später einen Platz in der Erinnerung zu bekommen. Wie die Vergewaltigung der María Antonia Etxarri oder die sonderbare Komplizenschaft des hinkenden Arztes Castro.
Als der Wahnsinn des Krieges den Alltag auslöschte, herrschte Dunkelheit. Eine, zwei oder drei Generationen später tauchen die Erinnerungen wieder auf …
Manuel de Lope ist ein großer Erzähler, der mit ruhigem Tempo Landschaften, Menschen und Gefühle in Bilder von elementarer Kraft prägt. (Klett-Cotta)
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