Bjørn Sortland: "Die Minute der Wahrheit"

Roman über die Liebe und die Kunst


Frida ist 17 Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter in Oslo. Ihr Vater hat die Familie vor langer Zeit verlassen. Frida ist eine ganz gute Schülerin, freundlich, ein wenig zurückhaltend. Mit Jungen hat sie noch nicht viele Erfahrungen gemacht, ganz im Gegensatz zu ihrer Freundin Camilla, mit der sich Frida oft austauscht. Frida leidet unter ihrer eigenen Unaufrichtigkeit und nimmt sich etwas vor: "Ich nenne diese Idee die Minute der Wahrheit. Wenn sie ein Hit werden sollte, woran ich so meine Zweifel habe, kommt mir die Ehre zu, sie erfunden zu haben: Frida Riis - die Erfinderin der Minute der Wahrheit. Es ist eine einfache Erfindung: einmal alle zwei Wochen ehrlich sein, maximal eine Minute am Stück. Bei etwas, das einem wichtig ist. Wichtig und wahr. Nicht eine Sekunde länger. Das Ganze hat nichts Moralisches, man kann gerne jemanden beschimpfen, wenn es einem wichtig ist."
Sie probiert es aus und stellt fest, wie anstrengend es ist, wahrhaftig zu sein. "Denn jedes Mal, wenn ich meine Minute der Wahrheit praktiziert habe, brauche ich zwei Wochen um wiedergutzumachen, was ich in einer ehrlichen Minute angerichtet habe."

Frida Riis hat ein Augenleiden. Als sie endlich einen Arzt aufsucht, schickt dieser sie gleich zu einem Spezialisten, der ernst mit ihr redet, auch deshalb, weil Frida auf der Wahrheit insistiert und sich nicht mit allgemeinen Informationen abspeisen lässt. Sie erfährt vom Arzt, dass die Hornhäute ihrer beider Augen erkrankt sind, so schwer, dass auch eine Transplantation nicht auszuschließen sei, wolle man ein völliges Erblinden in allerkürzester Zeit verhindern.
Frida ist schockiert, erzählt ihrer Mutter aber nur die halbe Wahrheit. Sie wird vielleicht nie wieder sehen können! Frida hat große Angst und flieht zuerst einmal. Sie hebt von einem Konto, auf dem ihre Mutter über lange Jahre das Kindergeld für Frida angespart hat, und das Frida verwaltet, weil ihre Mutter das nicht kann, eine relativ große Summe ab, kauft sich von ihrem Taschengeld eine Interrailkarte und fährt mit unter heftigem Widerstand gegebener Zustimmung ihrer Mutter mit dem Zug nach Florenz, wo sie schon immer einmal hin wollte.
Die Reise nach Florenz kann Frida noch genießen, fühlt sich frei und verdrängt ihre Angst vor dem Erblinden. Doch in Florenz angekommen, vergeht sie fast vor Fremdheit und zieht sich an den einzigen ihr bekannt vorkommenden Ort zurück: Eine Schnellimbisskettenfliliale am Bahnhof.

Dort trifft sie Jakob, einen Jungen, der ebenfalls aus Norwegen kommt und mit einer Interrailkarte durch Europa reist. Jakobs Eltern sind bei der Heilsarmee, und er soll für ein Jugendmagazin dieser christlichen Gruppe einen Artikel über Kunst verfassen. Frida gibt vor, in Florenz ihren Vater zu suchen, und gesteht erst viel später in einer "Minute der Wahrheit", dass sie auf der Flucht vor ihrer Angst vor dem Erblinden ist. In einer späteren "Minute" wird sie Jakob gestehen, dass sie sich in ihn verliebt hat.

Er sitzt einfach nur da. Das Handy in der Hand. In das er nicht mehr spricht. Würde jemand einen Wettbewerb ausschreiben, wer die braunsten Augen im ganzen Weltall hat, dann würde er ihn gewinnen. Er legt das Handy weg und starrt eine Weile vor sich hin, dann nimmt er ein Buch in die Hand, ein dickes blaues, Florenz – Kunst und Architektur. Er liest nicht sehr lange darin, legt es wieder weg und starrt ins Leere. Er denkt offensichtlich an etwas anderes. Ich finde,  er sieht ziemlich down aus. Und seine Stimme eben hatte etwas Trauriges. (...)
Aus dem Roman

Von nun an sind die beiden zusammen und wandeln, zunächst in Florenz, danach auch in anderen Städten Italiens und Frankreichs, auf den Spuren der Kunstgeschichte Europas. Schnell hat sich Frida in diesen Jungen verliebt, der ihr und auch den jugendlichen Lesern dieses wunderbaren Buches in beeindruckender Weise Kunst und ihre Geschichte erklärt. Sein Vorhaben ist es, 33 (!) Kreuzesszenen verschiedener Maler zu beschreiben, angefangen von Giotto über Brunelleschi, Vasari uva bis zu Edward Munch, Francis Bacon, Salvador Dalí und Arnulf Rainer.

Alle 33 Gemälde sind im Innenteil des Buches in Farbe abgebildet, was dem Leser das Verständnis von Jakobs Erläuterungen sehr erleichtert und ihm einen ebenso guten wie plastischen Eindruck vom Wechsel der unterschiedlichen Kunstepochen, die Jakob mit Frida während ihrer tagelangen Reise durch geht, vermittelt.
Eingebettet in eine zarte Liebesgeschichte, die erst verschiedene Hindernisse zu überwinden hat, vermittelt das Buch hervorragende Einsichten in die Kunst.

Doch entgegen seinem Untertitel, den wohl der Hanser Verlag gewählt hat, ist "Die Minute der Wahrheit" nicht nur ein Roman über die Liebe und die Kunst, sondern auch ein Roman über die christliche Religion. Über 33 verschiedene Kreuzesszenen hinweg wird im Verlauf des Buches immer deutlicher, welche Kraft und welches Geheimnis in diesem Geschehen verborgen sind. Weil Frida nur rudimentäre Kenntnisse der Geschichten aus dem Neuen Testament besitzt, erzählt Jakob neben der Kunstgeschichte auch lange Passagen der Geschichte des Jesus von Nazareth. Jakob hat einen kritischen Glauben an Gott, und dennoch ruht er darin. Ganz besonders hintersinnig und von ganz eigener Aussagekraft ist, dass die Geschichte von Frida und Jakob in der Karwoche spielt ... 

Fazit: "Die Minute der Wahrheit" ist ein eindrucksvolles Buch von einem Autor, der es auf bewundernswerte Weise versteht, jungen Lesern nicht nur die Kunstgeschichte nahezubringen, sondern auch Reflexionen über ein Motiv zu vermitteln, das die Geschichte der Kunst durchzieht wie ein roter Faden, eben weil die Menschen noch lange nicht damit fertig sind: den Tod Gottes am Folterkreuz und damit den Sieg des Lebens über alle Gewalt.

(Winfried Stanzick; 11/2007)


Bjørn Sortland: "Die Minute der Wahrheit. Roman über die Liebe und die Kunst"
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. (Ab 14 J.)
Hanser, 2007. 424 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Bjørn Sortland wurde 1968 an der Westküste Norwegens geboren, studierte an der Staatlichen Sozialakademie in Oslo und arbeitete zunächst als Journalist, Rezensent und Autor, bis er sich auf das Schreiben für Kinder und Jugendliche konzentrierte. Seine Kinder- und Jugendbücher wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. "12 Dinge, die ich noch erledigen will, bevor die Welt untergeht" gewann den skandinavischen Romanwettbewerb 2001 und wurde in Norwegen für den "Brage-Preis" nominiert:

"12 Dinge, die ich noch erledigen will, bevor die Welt untergeht"
Dass man im Leben jederzeit mit allem rechnen muss, davon ist Therese überzeugt. Als sich auch noch ihre Eltern trennen, beschließt sie eine Liste mit den Dingen aufzustellen, die sie unbedingt erledigen will, bevor die Welt untergeht. Aber es ist gar nicht so einfach zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Eigentlich müsste doch Jan, der Sohn des neuen Pfarrers, der richtige Ansprechpartner für das Thema Weltuntergang sein. Außerdem riecht er so gut nach Apfel. Vielleicht kann Therese dann auch endlich den Punkt mit dem Küssen auf ihrer Liste abhaken ... (dtv junior)
Buch bei amazon.de bestellen