Cornelia Funke: "Tintenblut"

Eine Welt voll Zauber und Gefahren


Eigentlich könnte alles so friedlich sein. Doch der Zauber von "Tintenherz" lässt Meggie nicht los. Und eines Tages ist es so weit: Gemeinsam mit Farid geht Meggie in die Tintenwelt, denn sie will den Weglosen Wald sehen, den Speckfürsten, den Schönen Cosimo, den Schwarzen Prinzen und seine Bären. Sie möchte die Feen treffen und natürlich Fenoglio, der sie später zurückschreiben soll. Vor allem aber will sie Staubfinger warnen, denn auch der grausame Basta ist nicht weit ...

Und endlich ist er da, der zweite Band der "Tintenwelt-Trilogie", wenn man sie mal so nennen möchte. Am Ende des ersten Bandes befanden sich viele der bisherigen Handlungsträger nicht mehr auf ihrer angestammten Erzählwelt, und einige von ihnen wollten dringend wieder zurück dahin, wo sie hergekommen waren. Aber dafür wählen sie nicht unbedingt die probatesten Methoden oder Helfer. Staubfinger nimmt sich Orpheus zu Hilfe, der ihn zusammen mit Farid in seine Welt zurück bringen soll, die er nun schon seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat. Nur Gwin, den Marder, möchte er aus gegebenem Anlass gerne zurücklassen.

Doch Orpheus hat durchaus seine eigenen Pläne, und so findet sich Staubfinger ohne Begleitung im Weglosen Wald wieder, was ihn allerdings nicht allzu lange irritiert, da er einfach nur froh ist, zu Hause zu sein. Farid hingegen sieht sich plötzlich der Klinge von Basta gegenüber, der gerade mit Orpheus gemeinsame Sache macht, und kann nur mit Müh und Not entkommen - wodurch er schließlich eine Menge Ärger über viele Menschen in der "normalen" Welt bringen soll. Und ein kleiner "Grenzverkehr" durch die Buchstaben in die Welt dahinter beginnt.

In dieser Welt dahinter muss allerdings Fenoglio, der Autor von "Tintenherz" feststellen, dass "seine" Geschichte sich immer mehr verselbstständig und dabei Wendungen nimmt, die er so nie vorgesehen und bestimmt auch nicht gewünscht hat. Besonders, da diese ihn nun auch noch selbst betreffen - und zwar ganz direkt. Er begegnet immer mehr Figuren, deren Leben er um einer guten Geschichtenidee willen verkompliziert oder gar grausam gestaltet hat, und muss sich jetzt zum Teil ihnen und zum Teil sich selbst gegenüber rechtfertigen. Dabei sieht er immer mehr Unverzeihliches in der von ihm geschaffenen Welt, wogegen es ihm immer schwerer fällt anzuschreiben.

So oft wünschen wir uns beim Lesen eines guten Buchs Teil der Handlung zu werden und vergessen dabei leicht, wie fürchterlich uns die in einem Buch beschriebene Welt vorkommen würde, wären wir erst einmal
wirklich darin. Denn in den spannendsten und besten Geschichten müssen häufig viele Leute leiden, und einen wirklich bösen und mächtigen Menschen trifft man auch besser auf dem Bildschirm oder dem Papier als im "realen" Leben, wie dieses Buch nur allzu deutlich macht.

Als zweiter Teil einer Trilogie hat "Tintenblut" zwangsläufig etwas "Unfertiges", und darauf sollten sich die Leser wirklich vorbereiten. Dafür gibt es am Ende des Buchs einen wunderbaren Service, denn den Lesern der "ersten Stunde" und denen, die erst mit diesem Band in die Trilogie einsteigen, bietet Cornelia Funke eine Kurzcharakterisierung aller bereits eingeführten Handlungsfiguren, eine Karte der Tintenwelt und eine Auflistung der neu hinzukommenden wichtigen Protagonisten.
So kann jeder mit diesem Buch gut in die Reihe (wieder-) einsteigen.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 09/2005)


Cornelia Funke: "Tintenblut"
Dressler, 2005. 730 Seiten. (Ab 10 J.)
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Leseprobe:

Mo wusste sofort, dass Meggie fort war. Er wusste es in dem Moment, in dem er an ihre Tür klopfte und ihm nichts als Stille antwortete. Resa deckte unten in der Küche mit Elinor den Frühstückstisch. Das Klirren der Teller drang bis zu ihm herauf, aber er hörte es kaum, er stand nur da, vor der verschlossenen Tür, und lauschte seinem eigenen Herzen. Viel zu laut schlug es, viel zu schnell. "Meggie?" Er drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verschlossen. Meggie schloss nie ab, niemals.

Sein Herz schlug, als wollte es ihn ersticken. Die Stille hinter der Tür klang schrecklich vertraut. Genauso hatte sie sich ihm schon einmal auf die Ohren gelegt, damals, als er Resas Namen gerufen hatte, wieder und wieder. Zehn Jahre hatte er auf Antwort warten müssen.

Nicht wieder. Gott, bitte, nicht wieder. Nicht Meggie.

Es schien, als hörte er das Buch hinter der Tür flüstern, Fenoglios verfluchte Geschichte. Er glaubte die Seiten rascheln zu hören, gefräßig wie bleiche Zähne.

"Mortimer?" Elinor stand hinter ihm. "Die Eier werden kalt. Wo bleibt ihr? Himmel!" Sie sah ihm besorgt ins Gesicht, griff nach seiner Hand. "Was ist los mit dir? Du bist ja blass wie der Tod."

"Hast du einen Ersatzschlüssel für Meggies Tür, Elinor?"

Sie begriff sofort. Ja, sie erriet ebenso wie er, was hinter der verschlossenen Tür passiert war, vermutlich in der letzten Nacht, während sie alle geschlafen hatten. Sie drückte seine Hand. Dann drehte sie sich wortlos um und hastete die Treppe hinunter. Mo aber lehnte sich gegen die verschlossene Tür, hörte, wie Elinor nach Darius rief, wie sie fluchend nach dem Schlüssel suchte, und starrte die Bücher an, die sich in Elinors Regalen reihten, den ganzen langen Flur hinunter. Resa kam die Treppe heraufgehastet, mit blassem Gesicht. Sie fragte ihn, was passiert war, ihre Hände flatterten dabei wie aufgescheuchte Vögel. Aber was sollte er antworten? Kannst du dir das nicht denken? Hast du ihr nicht oft genug davon erzählt?

Noch einmal drückte er die Klinke herunter, als könnte das irgendetwas ändern. Meggie hatte das ganze Türblatt mit Zitaten bedeckt. Wie Zauberformeln erschienen sie ihm nun, mit kindlicher Hand auf den weißen Lack geschrieben. Bringt mich in eine andere Welt! Nun macht schon! Ich weiß, ihr könnt es. Mein Vater hat mir vorgemacht, wie. Seltsam, dass einem das Herz nicht einfach stehen blieb, wenn es so wehtat. Doch auch vor zehn Jahren war es nicht stehen geblieben, damals, als die Buchstaben Resa verschlungen hatten.

Elinor zog ihn zur Seite, sie hielt den Schlüssel in den zitternden Fingern, schob ihn ungeduldig ins Schloss. Ärgerlich rief sie Meggies Namen - als wüsste sie nicht auch längst, dass nur eines hinter der Tür wartete: Stille, wie in jener Nacht, die Mortimer die Angst vor seiner eigenen Stimme gelehrt hatte.

Er betrat das leere Zimmer als Letzter, zögernd. Auf Meggies Kissen lag ein Brief. Liebster Mo ... Er las nicht weiter, wollte nichts wissen von den Worten, die ihm nur das Herz zerbeißen würden. Während Resa nach dem Brief griff, sah er sich um - suchte mit den Augen nach einem anderen Blatt, dem Blatt, das der Junge mitgebracht hatte, aber es war nirgends zu entdecken. Natürlich nicht, du Dummkopf!, sagte er sich. Sie hat das Blatt mitgenommen, schließlich muss sie es in der Hand gehalten haben, als sie las. Erst Jahre später erfuhr er von Meggie, dass Orpheus' Blatt sehr wohl noch in ihrem Zimmer gewesen war, in einem Buch, wo sonst? Ihrem Erdkundebuch. Was, wenn er es gefunden hätte? Hätte er Meggie folgen können? Nein, vermutlich nicht. Für ihn hatte die Geschichte einen anderen Weg vorgesehen, einen dunkleren, schwereren Weg.

"Vielleicht ist sie ja auch nur mit dem Jungen fort! Mädchen in ihrem Alter machen so etwas. Nicht dass ich davon etwas verstehe, aber ..." Elinors Stimme klang wie von ferne zu ihm. Resa reichte ihr zur Antwort nur den Brief, der auf dem Kissen gewartet hatte.

Fort. Meggie war fort.

Er hatte keine Tochter mehr.

Würde sie wiederkommen, so wie ihre Mutter? Von irgendeiner Stimme wieder herausgefischt aus dem Meer der Worte? Und wann? Nach zehn Jahren, so wie Resa? Dann würde sie erwachsen sein, und er würde sie vielleicht nicht einmal erkennen. Alles verschwamm ihm vor den Augen, Meggies Schulsachen auf dem Tisch vorm Fenster, ihre Kleider, sorgsam über die Stuhllehne gehängt, als hätte sie tatsächlich vor, zurückzukehren, ihre Stofftiere gleich neben dem Bett, auch wenn sie Meggie schon seit langem nicht mehr beim Einschlafen helfen mussten, die pelzigen Gesichter kahl geküsst. Resa begann zu weinen, lautlos, die Hand vor den stummen Mund gepresst. Mo wollte sie trösten, aber wie, bei all der Verzweiflung in seinem Herzen?

Er drehte sich um, schob Darius zur Seite, der mit traurigem Eulenblick in der offenen Tür stand - und ging hinüber in sein Büro, wo die verfluchten Notizbücher sich immer noch zwischen seinen Belegen stapelten. Er stieß sie vom Tisch, eins nach dem anderen, als könnte er so die Worte zum Verstummen bringen, all die verfluchten Worte, die sein Kind verhext hatten, fortgelockt wie der Rattenfänger im Märchen, an einen Ort, an den er schon Resa nicht hatte folgen können. Mo war es, als träumte er erneut denselben schlimmen Traum, nur dass er diesmal nicht einmal das Buch hatte, auf dessen Seiten er nach Meggie hätte suchen können.

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