Dieter Hildebrandt: "Die Neunte"

Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolgs


Dieter Hildebrandt wurde 1932 in Berlin geboren und lebt als Publizist und Schriftsteller im Spessart. Seine Lessing-Biografie, die 1979 erstmals im Hanser Verlag erschien, nimmt längst einen exponierten Platz in der Lessing-Literatur ein.

Den Umschlag von "Die Neunte" zieren zwei runde Porträts eines jungen Schiller und eines alten, grimmig dreinschauenden Beethoven. Das Buch wird durch einen 12-seitigen Quellennachweis mit Seitenangaben und ein 6-seitiges Personenregister ergänzt. Der Text selbst verweist nicht auf den Anhang.

Das erste Kapitel schildert die Zeit unmittelbar vor der Uraufführung der neunten Sinfonie am 7. Mai 1824 im Kärtnertortheater in Wien. Ein nahezu tauber Komponist und schwieriger Zeitgenosse im Vorfeld der Uraufführung seines letzten großen Werkes dürfte einige Menschen seines Umfeldes der Verzweiflung recht nahe gebracht haben.

In Kapitel zwei werden Schillers biografische Hintergründe der neun Strophen der Ode untersucht. So werden die Verse in einen nachvollziehbaren persönlichen Kontext des Autors gestellt, der sogar seine und seines Freundes Flucht aus Stuttgart gefährdet, weil ihn spontan eine lyrische Erwiderung auf ein Gedicht Klopstocks fesselte.

Kapitel drei enthält die erstaunlich vielfältige Geschichte der Vertonung der Ode, die in Beethovens Neunter (wohl) ihren Höhepunkt fand. Hier kann man auch die Bedeutung erahnen, die Autor und Gedicht für die aufrührerischen Geister des späten 18. Jahrhunderts gehabt haben müssen. So waren Werke - auch die Ode - des Monsieur Gille, wie er in Frankreich lautmalerisch genannt wurde, ebenso Teil der dortigen revolutionären Literatur. Der Autor diskutiert in diesem dritten Kapitel auch die Veränderungen, die Beethoven durch die Textauswahl und -anordnung hervorgerufen hat. Hierbei geht er weiters auf die vielfältigen Rezeptionstheorien ein, die sich in den Musikwissenschaften mittlerweile angesammelt haben.

Im folgenden Kapitel geht es um Aufführung und Aufnahme des Werkes in Berlin, London, Paris und New York während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Ein weiteres Kapitel ist betitelt mit "Auftritt der Retuscheure" und handelt von Richard Wagners rücksichtsloser Ausbeutung von Dichter, Komponist und Werk. Aber auch der scheinbar unzerstörbare Mythos der Ode "An die Freiheit" wird untersucht. So soll Schiller statt der Freude eigentlich die Freiheit im Sinne gehabt haben, als er die Ode niederschrieb. Also sei denn die Freude eigentlich eine Konzession an die Zensur gewesen.

Kapitel 6 schließt hier bündig an und zeigt so auch ihre Doppelrolle nach dem Krieg 1871. Wagner nutzt die Sinfonie als Werkzeug des deutschen Chauvinismus gegenüber Frankreich, und Frankreich sieht in ihr den Kristallisationskern der eigenen revolutionären und postrevolutionären Geschichte. Eine Untersuchung der Rolle der Sinfonie im Licht des Klassenkampfes zur Jahrhundertwende schließt dieses Kapitel ab.
Dass auch die Nazis nicht davor halt machten, die Sinfonie in den Dienst nordischer Suprematie zu stellen, ist Gegenstand des 7. Kapitels: "Wie die neunte Sinfonie zum Teufel ging".
Das achte Kapitel nähert sich dann der Gegenwart, zeigt moderne literarische Verarbeitungen und würdigt die Entstehung der Europahymne, die 1972 von Karajan eingespielt wurde: als Bläsersatz und ganz ohne Chor - in welcher Sprache hätte der denn singen sollen?

Und so endet das 9. Kapitel des Buches über das neunstrophige Gedicht und die neunte Sinfonie mit einigen abschließenden Betrachtungen. Denn obwohl unsere Zeit die Anlagen dazu besitzt, sind die Ideale der beiden Verfasser auf eine andere Art weit weg von der Realität. Dieter Hildebrandt lässt "Die Neunte" damit ausklingen, dass er das Werk einen Hymnus an die Vergeblichkeit nennt, eine Sinfonie des Sisyphus.

Fazit:
Schiller war rund 26 Jahre alt, romantisch veranlagt und ziemlich auf der Flucht, als er im Jahre 1785 das Gedicht "An die Freude" niederschrieb. Die deutsche Kulturstaatsministerin Weiss identifizierte die Ode in einer Rede am 23.11.2004 schlicht als Trinklied; um einen dionysischen Bundesschluss soll es sich handeln. Doch dieses frühe Werk eines intellektuellen Befreiungskämpfers inspirierte weniger die weinseligen als die humanistisch-revolutionären Köpfe. So beeinflusst es in Beethoven einen weiteren sperrigen Geist und spornt diesen zu einer epochalen Sinfonie an, die gelobt, geschmäht, meist unverstanden, oft verunstaltet und auch politisch instrumentalisiert die letzten 180 Jahre überdauerte und sich anschickt, im Jahre 2024 einen weltweiten 200. Geburtstag zu feiern.

Dieter Hildebrandt bereichert durch dieses Buch das Schiller-Jubiläumsjahr 2005 auf ganz außergewöhnliche Weise. Einige Verweise auf den Sprachkritiker Karl Kraus, den der Autor sehnlichst herbeizuwünschen scheint, schrauben natürlich auch den formalen Anspruch an den Text herauf. Aber dem wird der Autor gerecht, denn das Buch bewegt sich auf einem hohen sprachlichen Niveau und wartet mit einigen interessanten Details auf. So, wenn die Sätze zunehmend kürzer werden, als es um die Schilderung von Schillers Verbleib in der Sklavenplantage des herzoglichen Internats geht und die Verben letztlich ganz ausbleiben. Man spürt als Leser über diesen formalen Kunstgriff die entsetzliche Enge und Trostlosigkeit dieses Lebens. Haben wir letztlich diesem misanthropisch-herzoglichen Pietisten, der sich als aufgeklärt betrachtete, unseren zornigen Schiller zu verdanken und somit vielleicht auch indirekt "Die Neunte"? Per aspera ad astra?

(Klaus Prinz; 02/2005)


Dieter Hildebrandt: "Die Neunte"
Hanser, 2005. 368 Seiten.
ISBN 3-446-20585-3.
ca. EUR 25,60. Buch bei Libri.de bestellen
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Leseprobe:

Freitag, der 7. Mai 1824. Ein Tag für das globale Gedächtnis, ein Datum aus dem Kalender der Menschheitsgeschichte. Vorgriff auf eine unbekannte Nachwelt. Schöpfungsakt einer Zukunftsmusik ohnegleichen. Das, was man später eine Sternstunde nennen wird.

Dabei geht es nicht allzu feierlich zu an diesem frühen Abend im K.K. Hoftheater nächst dem Kärntnerthor, als Herr L. van Beethoven, Ehrenmitglied der königlichen Akademie der Künste und Wissenschaften zu Stockholm und Amsterdam, Ehrenbürger von Wien, seine Große Musikalische Akademie - das ist ein Benefizkonzert zu eigenen Gunsten - gibt. Die Eintrittskarten sind "wie gewöhnlich", aber Freibillets sind ungültig. Jeder soll bezahlen.

Das Theater ist gut besucht. Die 2400 Plätze, "wenn es voll gedrängt ist", sind schon vorher fast ausverkauft. Ehe Beethovens Neffe Karl nachmittags noch einmal an die Kasse geht, kann er melden: "Übrigens ist es gut gegangen. Die Logen sind weg, ein paar auch überzahlt, mit 25 und 40 f, im 4ten Stock sind alle Plätze weg, die übrigen im Parterre u. 1ten Gallerie hoffe ich wohl noch abzusetzen".

Beethovens Freunde und die meisten seiner adligen Gönner und Verehrer sind gekommen. Nur die kaiserliche Familie fehlt, obwohl Franz I. und seine Gemahlin persönlich vom Komponisten eingeladen worden waren; beide haben Wien kurz vorher verlassen. Ein mißgünstiger Beobachter notiert: "Viele Logen leer - vom Hofe niemand." Denn auch der Erzherzog Rudolf, sein prominentester Schüler und verläßlichster Förderer, kann nicht dabei sein; seit 1820 sitzt er als Erzbischof im mährischen Olmütz und kommt nur noch selten nach Wien. Aber er hat aus der Ferne an den Vorbereitungen Anteil genommen und sich Sorgen gemacht; man hat Beethoven berichtet, "daß der Erzh. Franz fragte, wie es bey den Proben geht - er habe gehört, es geht nicht recht zusammen. (...) Von den Cabalen war er schon genau unterrichtet, er fragte dann, ob das alles wahr sey u. bedauerte Sie sehr, daß Ihnen dieß hier widerfahren muß." Von den Kabalen und Mißlichkeiten gleich mehr.

Aber sonst ist das kunstsinnige, das ereignisfrohe und vor allem das sensationsbedürftige Wien gekommen, und sei’s, um Beethoven nicht zu hören, sondern endlich einmal wieder zu Gesicht zu bekommen. Denn der Anschlagzettel verkündet:

"Herr Ludwig van Beethoven wird an der Leitung des Ganzen Antheil nehmen."

Das Ganze, so verheißt es das Plakat, das für diesen Tag noch einmal frisch gedruckt worden ist, besteht aus drei Teilen:

"Erstens. Große Ouverture.

Zweytens. Drey große Hymnen, mit Solo und Chor

Drittens. Große Symphonie, mit im Finale eintretenden Solo und Chor auf Schiller’s Lied, an die Freude."

Bei der Ouvertüre handelt es sich um "Die Weihe des Hauses", die zwei Jahre zuvor, zur Eröffnung des Theaters an der Josephstadt, geschrieben worden war, und bei den "Hymnen" um Teile aus der "Missa solemnis" - Kyrie, Credo und Agnus Dei -; warum sie auf dem Programm so neutral annonciert wurden, wird zu erklären sein. Das Hauptwerk aber ist die neue, die neunte Sinfonie Beethovens, von der man schon hat raunen hören, was man nun schwarz auf weiß lesen kann, daß ein Chor samt Solisten die jahrhundertealte Konvention des Symphonischen, der Instrumentalmusik durchbrechen soll.

Es ist die erste "Akademie" Beethovens seit 1814; sein erstes öffentliches Auftreten, seit er am Weihnachtstag 1817 seine 8. Sinfonie dirigiert hatte. Und sie ist unter großen Mühen und grotesken Reibereien überhaupt zustande gekommen. Was Nachgeborene als musikalisches Weltereignis würdigen werden, war mit lauter Schwierigkeiten verbunden. Die größte war von Anfang an Beethoven selbst; sie blieb es bis zuletzt.

Monate vorher hatte ihn eine der nun beteiligten Sängerinnen, Karoline Unger, im wahrsten Sinne des Wortes bekniet: "Wann geben Sie Ihre Akademie? Wenn man einmahl den Teufel hat, so kann man zufrieden sein ... Wenn Sie das Concert geben, so stehe ich für die Völle. (Das heißt: für ein ausverkauftes Haus.) Sie haben zu wenig Selbstvertrauen. Haben denn die Huldigungen der ganzen Welt Sie nicht ein wenig stolzer gemacht? Wer spricht denn von Anfechtungen? Wollen Sie denn nicht glauben lernen, daß man sich sehnt, Sie wieder in neuen Werken anzubeten? O Halsstarrigkeit!"

Was die Sängerin Halsstarrigkeit nennt, ist tiefe Menschenscheu, Verbitterung, ja Verbiesterung, Einsamkeitsfuror, Rabiatheit, die bis zur Selbstzerstörung geht. Ludwig van Beethoven ist für Wien längst zu einer Mischung aus Denkmal und Stadtgespenst geworden. Er verkehrt mit Fürsten und Majestäten, er läßt sämtliche Verleger Europas vor seinen Forderungen zittern, er wird gemalt, in Kupfer gestochen, modelliert -: aber er ist ein armer, alter, unansehnlicher Mann. Er ist weltberühmt, aber er ist der Welt abhanden gekommen. In seinem Kopf spukt nur noch Musik - und Misanthropie. In einem der Jahre vor der Uraufführung gibt es einen Vorfall, der das Inferno seiner Alleingelassenheit bezeichnet: An einem Sommerabend in Wiener Neustadt sehen Anwohner in der Nähe des Ungertors, wie ein verwahrlost aussehender Mann ihnen durch die Fenster starrt. Sie rufen den Polizeidiener, der den Verdächtigen abführt. Der ruft: "Ich bin Beethoven!" und wird mit der Antwort abgefertigt: "Warum nicht gar? Ein Lump sind Sie, so sieht der Beethoven nicht aus!" Den Abend verbringt der Mann in der Arrestzelle, bis ihn, durch dessen hartnäckige Proteste alarmiert, der Musikdirektor des Ortes identifiziert: "Das ist der Beethoven." Das also ist der Beethoven, mit dem wir es auch zu tun haben.

Die mit Schwierigkeiten, Rankünen und Beethovenschen Bizarrerien ausgefüllten Wochen der Vorbereitung, diese Zeit des Frühjahrs 1824 liegt vor uns als offenes Buch; nämlich in Gestalt jener Konversationshefte, die Beethoven seit der völligen Ertaubung zu benutzen gezwungen war: Hefte also, in die seine Besucher, die Freunde, aber auch seine Hausgenossen und Dienstmädchen alles eintragen mußten, was sie ihm sagen wollten. So, wenn Franz Grillparzer mit dem Komponisten über das Projekt einer Oper "Melusine" verhandelte und über politischen Zwang klagte ("Die Censur hat mein Trauerspiel Ottokar verbothen"), so aber auch, wenn der Adlatus Anton Schindler von den Semmeln, die die Haushälterin eingekauft hatte, eine gegessen hatte, ehe Beethoven, der Knausrige, die Zahl mit der Rechnung vergleichen konnte. Da finden sich Alltagsfetzen und Philosophisches, Büchernotizen und Kleinkram, erste Gedanken und letzter Dreck, Kritzeleien, die das Leben schreibt. Nur Beethoven selbst kommt in diesen schmalen Kladden selten zu Wort: denn sprechen kann er ja, muß also nicht notieren. Und so wird aus den Heften dieser Frühjahrsmonate 1824 ein Protokoll der Widrigkeiten bei der Vorbereitung der Akademie. Lauter dunkle Materie türmt sich auf. Die düsterste ist der Meister selbst, der immer wieder eingreift, um die Sache zu erschweren, ja zu vereiteln.

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