Eine weitere Besonderheit der mittelalterlichen Kochliteratur waren auch die "Tischzuchten". Wenn man bedenkt, dass zu Hildegards Zeiten noch alle aus einem gemeinsamen Topf ihre Suppe, ihr "Koch" oder Mus(1) löffelten oder mit Brot tunkten (bei Ragouts zum Beispiel), das Übrige aber mit den Fingern aßen, so versteht man, dass allmählich gewisse Regeln bei Tisch notwendig geworden waren. Zudem hatten nämlich die Kreuzfahrer im Orient verfeinerte Sitten kennengelernt und nach Hause gebracht. In den Klöstern entstanden die ersten "Tischzuchten". Die Handschrift des Servitenklosters in der Rossau zu Wien (14. Jh.), die sogenannte Rossauer Tischzucht, verbietet, mit ungewaschenen Händen und langen Nägeln am Tisch zu erscheinen, ins Tischtuch zu schneuzen oder sich gar auf den Tisch zu legen, ins Getränk zu blasen oder Angebissenes wieder in die Schüssel zurückzulegen, auch nicht gleichzeitig zu essen und zu trinken oder zu essen und zu sprechen. Das Ziel dabei war, "dass keiner dem anderen mit falschem Verhalten den Appetit verdirbt", wie Facetus, der Verfasser einer weiteren Tischzucht, richtig bemerkt. Auf diese "Tischzuchten" gehen aber nicht nur unsere heutigen Anstandsregeln zurück, aus ihnen entstanden bereits im 15. Jahrhundert auch die ersten Erziehungslehren für Kinder.

¹ Die wichtigste Speise des 12. Jahrhunderts ist das "Muos", ein Brei aus Milch und Getreide wie Hirse, Hafer, Gerste oder Dinkel.


Aus "Hildegard von Bingen. Rezepte für Leib und Seele" von Eve Landis. AT Verlag, 1998. 144 Seiten. ISBN 3-85502-629-7. ca. EUR 17,38. ... zur Rezension ...