Karl-Heinz Ott: "Ins Offene"


Das Drama einer zerstörerischen Mutter-Sohn-Beziehung

"Vor zwei Tagen sagte mir ein Assistenzarzt nachts am Telefon, meine Mutter habe nur noch wenige Wochen zu leben."
Diese Information sozusagen im Gepäck mit sich führend, fährt der Ich-Erzähler in das kleine schwäbische Dorf, in dem er aufgewachsen ist, um die Mutter in ihren letzten Tagen zu begleiten und vielleicht den Frieden mit ihr zu finden.
Denn die Beziehung zwischen den beiden ist trotz oder vielleicht gerade aufgrund ihrer Intensität völlig vergiftet. Der Sohn wurde unehelich geboren, Folge einer außerehelichen Beziehung der Mutter mit einem Geschäftsmann, der sich bei Bekanntwerden der Schwangerschaft aus ihrem Leben und aus der Verantwortung stahl. Der Sohn hat ihn nie kennen gelernt.
Für die Mutter, die bei seiner Geburt bereits um die vierzig Jahre alt ist, folgen schwierige Jahre als Gebrandmarkte in der erzkatholischen Gemeinde, und auch der Sohn hat es in diesem Umfeld nicht leicht. Am schwersten machen sich jedoch Mutter und Sohn das Leben gegenseitig: Die Mutter sucht die totale Kontrolle über den Sohn und drängt ihn auch in die Rolle des Lebensgefährten, den sie im Grunde nie hatte; der Sohn hingegen setzt alles daran, der Umklammerung zu entfliehen oder jedenfalls den Anschein zu erwecken, er versuche es. Was bleibt, ist ein Klima der Belauerung, ein eigenartiger Status quo mit gezielt zugefügten Verletzungen.
Als der Sohn am Kranken- oder vielmehr Sterbebett der Mutter eintrifft, muss er erkennen, dass die alten Verhaltensmuster, zwanghaft geworden, zu Reflexen erstarrt, nicht mehr aufgegeben werden können. Pflichtbewusst spielt er dennoch seine Rolle bis zum Ende. Und kann erst nach der Beerdigung in Ruhe analysieren, nicht von den Gespenstern der Vergangenheit befreit, aber doch in der Ahnung, dass sich ihm die Möglichkeit eröffnet hat, die erstickende Enge des Käfigs zu verlassen.

Scharfsinnig, mit bemerkenswerter Beobachtungsgabe und ohne übertriebene Sentimentalität schildert der Autor diese missglückte Mutter-Sohn-Beziehung vor dem Hintergrund einer insgesamt nicht untypischen Kindheit auf dem Lande mit all ihren Beschränkungen, aber auch einer nur dort zu findenden Heimeligkeit, der Geborgenheit zwischen vertrauten Menschen, die freilich oft zu einer bedrückenden, mitunter auch bedrohlichen Intimität führt.
Die gegenseitige Abhängigkeit, deren sich die Protagonisten voll bewusst sind, führt dazu, dass diese einander das Leben zur Hölle machen im sinnlosen Versuch einer Ablösung, eine Obsession, die sich zunehmend verselbstständigt hat. Keiner der beiden braucht mehr einen wahrnehmbaren Auslöser, um dem anderen eine tiefe Verletzung zuzufügen. Und dies gelingt ihnen nur allzu gut, da sie einander aufgrund der Enge ihrer Beziehung bis in die hintersten Winkel ihrer Seelen kennen.
Wir alle kennen vermutlich die unguten Nebenerscheinungen übertriebener Nähe, die in diesem Roman zerstörerische Ausmaße angenommen haben. Unglaubwürdig wirkt die Schilderung an keiner Stelle. Sie entwickelt sich, frei von Pathos, eingebettet in das dörfliche, etwas bigotte Ambiente, schlicht und eher unterschwellig dramatisch und lässt den Leser trotz des in Ansätzen versöhnlichen Ausgangs nachdenklich und durchaus betroffen zurück.

(Regina Károlyi; 08/2006)


Karl-Heinz Ott: "Ins Offene"
Gebundene Ausgabe:
Hoffmann und Campe, 2006. 144 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2010.
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Karl-Heinz Ott wurde 1957 in Ehingen bei Ulm geboren. Er besuchte ein katholisches Internat und studierte Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft. Anschließend arbeitete er als Dramaturg in Freiburg, Basel und Zürich. 1998 erschien sein Romandebüt "Ins Offene", das mit dem Förderpreis des "Hölderlin-Preises" und dem "Thaddäus-Troll-Preis" ausgezeichnet wurde.

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