Krisztián Grecsó: "Lange nicht gesehen"


Die Schatten von Sáraság

Lange hat es gedauert, bis der junge Bibliothekar Gergely Gallér sich von seiner Vergangenheit und der Umgebung seiner Kindheit und Jugend lösen konnte, jenem Dorf namens Sáraság in einer abgelegenen Gegend Südungarns, in dem alle Bewohner dieselben Eigenheiten haben, zum Beispiel jenen unerklärlichen Durst, der sie nötigt, ständig eine Deckelkanne mit einem Getränk bei sich zu tragen, und die Fähigkeit, Schatten zu sehen, die kein Nicht-Sáraságer wahrnimmt.

Als ihn an seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag einer der früheren Freunde aus jenem "Verein" anruft, der vor Jahren nach einem heftigen Streit auseinanderbrach, muss sich Gergely der Erinnerung stellen und damit im wahrsten Sinne des Wortes den Schatten der Vergangenheit. Denn jene nur für sie sichtbaren Schatten haben im Leben der Sáraságer lange eine bedeutende Rolle gespielt, vor allem während der Zeit der "klebrigen Fälle", wie die Jungen aus Gergelys Verein eine Reihe rätselhafter Vorfälle im Dorf nennen. Vor allem aber teilt der ehemalige Freund Gergely mit, dass es möglich sei, das so genannte Klein-Tagebuch einzusehen, das eine zentrale Rolle während des Auseinanderbrechens des Vereins und der ganzen Dorfgemeinschaft gespielt hat.

Gergely Gallér, der immer eine sonderbare Position sowohl inmitten des Dorflebens als auch außerhalb eingenommen hat, entschließt sich, nach Sáraság zu fahren und das rätselhafte Tagebuch anzusehen.

Er stellt fest, dass sich im Dorf allerlei getan hat. Die Feindseligkeiten, vor den "klebrigen Fällen" noch unterschwellig, haben sich allerdings fortgepflanzt und treten ganz offen und bestürzend zutage, auch gegen ihn selbst gerichtet. Und nicht nur das: Gergely wird mit seiner eigenen Herkunft konfrontiert, die ihm im Grunde immer bewusst war, obwohl er sie nicht kannte. Die alte Freundschaft zu den Vereinsmitgliedern ist zwar endgültig zerbrochen, aber Gergely findet, wenn auch mit einem schmerzlichen Beigeschmack, so etwas wie Frieden.

Ein interessanter, ausgeprägter Hang zur Mystik, ein Blick für das Absurde in der menschlichen Natur und psychologische Beobachtungsgabe verleihen diesem Roman eine unverwechselbare Färbung. Den Charakteren, wiewohl realistisch und mit Scharfsinn gezeichnet, ist eine etwas düstere Schattenhaftigkeit zu eigen, bezüglich derer sie sich nicht sehr von den Toten unterscheiden, die eines Tages als Schatten im Dorf in Erscheinung treten. Das ganze Dorf trägt schwer an einer kollektiven Schuld, die verjährt scheint und doch wie eine Wasserleiche immer wieder nach oben treibt. Hinzu kommen die alltäglichen, ständig schwelenden und aus geringstem Anlass heftig ausbrechenden Konflikte, in denen es meistens um Liebe und Untreue geht, und die oft eine geradezu fantastische Dimension erreichen.

Inmitten dieses nur scheinbar dörflich-primitiven, in Wirklichkeit hochkomplexen Umfelds vollzieht sich Gergelys Entwicklung vom Kind zum Mann im Kreis seiner Freunde, die ihm mit der Zeit immer fremder werden.

Die Handlung des Romans wirkt auf den ersten Blick etwas ziellos, später offenbart sich der rote Faden, der sie zusammenhält und auf den abschließenden Höhepunkt zuführt. Die zahlreichen, scheinbar bedeutungslosen oder ausschmückenden Nebenstränge erhalten mit der Zeit eine Bedeutung, die sich im Verlauf des Buchs differenziert und in vielen Fällen auf überraschende und manchmal bestürzende Weise verändert oder zuspitzt.

Der Autor beschreibt die Verschrobenheit und die unter einer freundlichen, höchstens gleichgültigen Oberfläche gärenden gefährlichen Leidenschaften einer Dorfgemeinschaft, die alle außerhalb Lebenden als Provinzler abtut, auch die Hauptstadtbewohner. Das Deckmäntelchen der Rechtschaffenheit verbirgt nur unzulänglich zahlreiche Fälle von diffusem Rassismus, sexuellem Missbrauch und Bedrohung, die allenthalben hervorlugen und sich von neugierigen Jugendlichen leicht hervorzerren lassen; nicht selten freilich verstricken sich die Jungen selbst in den auf solche Weise ruchbar gewordenen "Peinlichkeiten". Dieser Hang, die unter den Teppich gekehrten Geschichten von Schuld und Verfehlungen freizulegen, bringt den Mitgliedern des "Vereins" die Ächtung der anderen Dorfbewohner ein und kostet sie schließlich auch die gegenseitige Freundschaft.

Die intensive, ausdrucksstarke Sprache bleibt in der Übersetzung von Timea Tankó vorzüglich erhalten. Selbst Wortspiele finden sich wieder - und nicht etwa in jener zwanghaften Form, die versucht, das Nichtübertragbare in irgendeiner Weise darzustellen.

Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch, das die abenteuerliche und schmerzliche Entwicklung Gergelys in den nicht minder schicksalhaften Übergang Ungarns vom Kádár-Regime zur Demokratie einbettet.

(Regina Károlyi; 02/2007)


Krisztián Grecsó: "Lange nicht gesehen"
(Originaltitel "Isten hozott")
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó.
Claassen, 2007. 411 Seiten.
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Krisztián Grecsó, geboren 1976 in Szegvár, dem Dorf, das Sáraság als Vorbild diente, lebt heute in Budapest. Er studierte Hungarologie und arbeitet als Redakteur und Kritiker für die beiden wichtigsten Literaturzeitschriften Ungarns, "Élet és Irodalom" und "Bárka". 2005 Stipendiat der Akademie der Künste Berlin, 2006 Gast des Literarischen Colloquiums Berlin. Nach drei Gedichtbänden und dem Erzählungsband "Pletykaanyu", der ihn 2001 in Ungarn schlagartig bekannt machte, ist "Lange nicht gesehen" sein erster Roman. Krisztián Grecsó wurde bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem "Attila-József-Preis", dem bedeutendsten Literaturpreis Ungarns.