(...) Als ich fünf Jahre alt war, hörte ich auf einer Straße in Beijing Bruchstücke eines Gesprächs, die sich in meiner Erinnerung festsetzten und mich nicht mehr losließen: »Die Tibeter haben seine Leiche in tausend Stücke zerteilt und an die Geier verfüttert.« »Was? Nur weil er einen Geier getötet hatte? Einer unserer Soldaten hat für den Tod eines Geiers mit seinem Leben bezahlt?« Das war 1963. Damals sprach man in China kaum über Tibet, und nur wenige wussten Näheres. Natürlich lasen wir in den Zeitungen von der ruhmreichen »Befreiung« Tibets, aber darüber hinaus erfuhren wir nur selten etwas über das Land. Als Fünfjährige dachte ich lange über jene Gesprächsfetzen nach und versuchte herauszufinden, was sie zu bedeuten hatten, bis die Erinnerung daran schließlich verblasste. Im Jahr 1994 arbeitete ich als Journalistin in Nanjing. Während der Woche moderierte ich eine abendliche Radiosendung, in der über verschiedene Aspekte des Lebens chinesischer Frauen diskutiert wurde. Einer meiner Hörer rief mich aus Suzhou an, um mir mitzuteilen, dass er auf der Straße eine seltsame Frau getroffen habe. Sie hatten beide eine Schale Reissuppe bei einem Straßenhändler gekauft und waren ins Gespräch gekommen. Die Frau war gerade aus Tibet zurückgekehrt, und er meinte, ich könnte vielleicht daran interessiert sein, sie zu interviewen. Sie hieß Shu Wen. Er nannte mir den Namen des kleinen Hotels, in dem sie sich aufhielt. Meine Neugier war geweckt, und ich machte mich auf die vierstündige Busfahrt nach Suzhou, einer geschäftigen Stadt, die trotz vieler moderner Neubauten ihre Schönheit bewahrt hat – ihre Kanäle, ihre hübschen Häuser mit Innenhöfen, ›Mondtoren‹ und verzierten Dachgesimsen, ihre Wassergärten und ihre uralte Tradition der Seidenherstellung. In einem kleinen Teehaus, das zu einem benachbarten, ebenso kleinen Hotel gehörte, traf ich eine alte Frau in tibetischer Kleidung, die intensiv nach altem Leder, saurer Milch und Tierdung roch. Ihr graues Haar hing in zwei unordentlichen Zöpfen herab, ihre Haut war faltig und wettergegerbt. Aber obwohl sie so tibetisch wirkte, zeigte ihr Gesicht die charakteristischen Züge einer chinesischen Frau – die kleine, stumpfe Nase, den ›Aprikosenmund‹. Als sie zu sprechen begann, verriet ihre Sprache augenblicklich, dass sie tatsächlich Chinesin war. Wie war dann aber ihre tibetische Erscheinung zu erklären? Zwei Tage lang ließ ich mir von ihr die Geschichte ihres Lebens erzählen. Als ich nach Nanjing zurückkehrte, schwirrte mir der Kopf. Ich hatte erkannt, dass ich den Schlüssel zu dem geheimnisvollen Gespräch gefunden hatte, das ich so viele Jahre zuvor als Kind in Beijing aufgeschnappt hatte. Gleichzeitig begriff ich, dass ich soeben eine der außerordentlichsten Frauen kennen gelernt hatte, denen ich je begegnen würde. Ich habe sie nie wiedergesehen, aber ihre Geschichte habe ich nicht vergessen. Irgendwann wurde mir klar, dass ich sie anderen erzählen musste.

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Shu Wen

Ihre unergründlichen Augen blickten an mir vorbei in die Welt vor dem Fenster – die von Menschen wimmelnden Straßen, den lärmenden Verkehr, die schnurgeraden Reihen moderner Hochhäuser. Was mochte sie dort sehen, das sie so sehr fesselte? Ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.
»Wie lange sind Sie in Tibet gewesen?«
»Mehr als dreißig Jahre«, erwiderte sie leise.
»Dreißig Jahre! Aber warum sind Sie dorthin gegangen? Aus welchem Grund?«
»Aus Liebe«, antwortete Shu Wen einfach und starrte unentwegt in den leeren Himmel, der hinter meinem Rücken lag.
»Aus Liebe?«
»Mein Mann war Arzt in der Volksbefreiungsarmee. Seine Einheit wurde nach Tibet versetzt. Zwei Monate später erhielt ich die Benachrichtigung, dass er gefallen sei. Wir waren nicht einmal hundert Tage lang verheiratet gewesen. Ich weigerte mich einfach, zu glauben, dass er tot sei«, fuhr sie fort.
»Niemand im Militärhauptquartier konnte mir etwas darüber sagen, wie er gestorben war. Die einzige Lösung, die mir einfiel, war, selbst nach Tibet zu fahren und nach ihm zu suchen.«
Ich starrte sie ungläubig an. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie zur damaligen Zeit eine junge Frau auf die Idee kommen konnte, in ein so fernes und so erschreckendes Land wie Tibet zu reisen. Ich selbst war 1984 wegen eines kurzfristigen journalistischen Auftrags am östlichen Rand von Tibet gewesen. Ich war überwältigt gewesen von der Höhe, der leeren, ehrfurchterregenden Landschaft und den harten Lebensbedingungen.
»Ich war eine verliebte junge Frau«, erklärte sie. »Ich habe nicht darüber nachgedacht, was mir zustoßen könnte. Ich wollte nur meinen Mann finden.«
Ich hatte viele Liebesgeschichten von Hörern gehört, die während meiner Radiosendung angerufen hatten, aber niemals eine, die damit zu vergleichen gewesen wäre. Meine Hörer waren daran gewöhnt, in einer Gesellschaft zu leben, in der es Tradition war, seine Gefühle zu unterdrücken und seine Gedanken zu verbergen. Es erschien mir kaum vorstellbar, dass die jungen Leute der Generation meiner Mutter einander derart leidenschaftlich lieben konnten. Man sprach nicht viel über jene Zeit, am wenigsten über den blutigen Konflikt zwischen Tibetern und Chinesen. Ich brannte darauf, die Geschichte dieser Frau zu hören, die sich zu einer Zeit abgespielt hatte, als China sich gerade von dem vorangegangenen Jahrzehnt des verheerenden Bürgerkriegs zwischen Nationalisten und Kommunisten erholte und als Mao das Mutterland wieder aufbaute. (...)


aus "Himmelsbegräbnis" von Xinran Xue
Als kleines Mädchen war Xinran fasziniert von der Geschichte über einen jungen Soldaten, der auf geheimnisvolle Weise in Tibet verschwunden war. Dreißig Jahre später trifft Xinran Shu Wen, die Ehefrau jenes Soldaten, und hört die Geschichte ihrer einzigartigen Liebe.1958 sind Shu Wen und ihr Mann Kejun junge idealistische Ärzte. Kurz nach ihrer Hochzeit geht Kejun mit der Armee nach Tibet, und nur wenige Wochen später erhält Shu Wen die Nachricht, ihr Mann sei dort umgekommen. Aus ihrer Verzweiflung erwächst der jungen Frau Entschlossenheit: Sie macht sich auf die Suche nach Kejun. Kaum in Tibet, wird sie nach einem Überfall von einer tibetischen Familie aufgenommen. Dreißig Jahre wird sie mit ihr durch das Hochland Tibets ziehen, ihren harten Alltag teilen, ihre Freuden und Leiden miterleben, ihre tiefe Verbundenheit mit der Religion bewundern lernen. Dreißig Jahre wird sie nach Kejun suchen, voller Liebe und unterstützt von den Menschen, mit denen sie lebt. Nach dreißig Jahren erfährt Shu Wen die Wahrheit über den Tod ihres Geliebten - und hat in dieser langen Zeit die Kraft in sich gefunden, seinen Tod hinzunehmen und ihre Liebe zu ihm zu bewahren.
Xinran, 1958 in Beijing geboren, arbeitete jahrelang als Radiojournalistin. Ihre Sendung "Words on the Night Breeze" war in ganz China bekannt und berühmt. Auf der Grundlage dieser Sendung entstand ihr erstes Buch
"Verborgene Stimmen. Chinesische Frauen erzählen ihr Schicksal." Der Titel war international ein großer Erfolg. 1997 verließ sie China und lebt seither mit ihrem Sohn und ihrem Ehemann in England. (Droemer) Buch bestellen