(...) Alle waren überrascht, als Professor Yang im Frühjahr 1989 einen Schlaganfall erlitt. Er war immer gesund gewesen, und seine Kollegen neideten ihm seine Energie und Produktivität. Er hatte mehr als alle anderen publiziert und war eine der Stützen des Literaturseminars; er leitete den Magisterstudiengang, gab eine halbjährlich erscheinende Zeitschrift heraus und unterrichtete dazu noch ein volles Stundendeputat. Selbst unter den Studenten im Grundstudium war sein Zusammenbruch in aller Munde. Einige wollten ihn sogar im Krankenhaus besuchen, doch Sekretärin Peng hielt sie mit dem Hinweis zurück, dass Herr Yang auf der Intensivstation liege und keine Besucher empfangen könne.

Sein Schlaganfall beunruhigte mich, denn ich war mit seiner Tochter Mei-mei verlobt, und außerdem bereitete ich mich unter seiner Anleitung auf die Zulassung zum Doktorandenstudiengang in Klassischer Literatur an der Beijing-Universität vor. Ich hoffte, angenommen zu werden, damit ich zu meiner Verlobten in die Hauptstadt ziehen und mich dort mit ihr niederlassen konnte. Herr Yangs Klinikaufenthalt unterbrach meine Arbeit; schon eine ganze Woche lang hatte ich kein Buch mehr aufgeschlagen, da ich ihn täglich besuchen musste. Langsam wurde ich nervös, denn ohne gründliche Vorbereitung würde ich die Prüfung kaum schaffen.

Gerade eben hatte mich Peng Ying, die Parteisekretärin unseres Seminars, in ihr Büro gerufen. Auf ihrem Tisch drehte sich ein elektrischer Ventilator hin und her und verteilte Schwaden von Insektenvertilgungsmittel, das gegen Flöhe im Raum versprüht worden war. Ihr grauer Pony flatterte, während sie mir meine neue Aufgabe erläuterte. Ich sollte meinen Lehrer künftig jeweils an den Nachmittagen betreuen. Ein Kommilitone, Fang Banping, würde sich ebenfalls um Herrn Yang kümmern; er übernähme die Vormittagsschicht.

"Nun, Wan Jian", erklärte sie mit einem gezwungenen Lächeln, "außer dir hat Professor Yang keine Angehörigen hier. Er braucht dich jetzt. Die Klinik hat tagsüber nicht genügend Pflegepersonal zur Verfügung, deshalb müssen wir jemanden schicken." Sie nahm einen Schluck aus ihrem großen Teebecher. Wie ein Mann trank sie schwarzen Tee und rauchte billige Zigaretten.
"Meinen Sie, er wird lange im Krankenhaus bleiben?" fragte ich.
"Keine Ahnung."
"Wie lange werde ich mich um ihn kümmern müssen?"
"Bis wir jemanden finden, der dich ablösen kann."

Damit meinte sie eine Person, die die Abteilung als Pflegekraft anstellen würde. Obwohl ich sauer war über die Art, wie sie mich zu dieser Aufgabe verdonnerte, wehrte ich mich nicht. In gewisser Weise war ich sogar froh über den offiziellen Auftrag, denn ich hätte ohnehin jeden Tag ins Krankenhaus gehen müssen.

Nach dem Mittagessen, als meine Zimmergenossen Mantao und Huran ihr Nickerchen hielten, ging ich zum Fahrradschuppen zwischen den beiden Wohnheimen. Die Studentinnen hatten erst kürzlich neue Wohnheime innerhalb des Universitätsgeländes bezogen, doch wir Studenten wohnten größtenteils noch in den einstöckigen Gebäuden nahe des Haupteingangs. Ich holte mein Rad der Marke "Phönix" heraus und machte mich auf den Weg zum Zentralkrankenhaus.

Das Krankenhaus lag im Zentrum von Shanning, und ich brauchte über zwanzig Minuten dorthin. Trotz des Frühsommers war die Luft drückend; es stank nach heißem Fett und gedünstetem Rettich. Auf den Balkonen der Wohnblocks am Straßenrand wehte träge die Wäsche: Leintücher, Blusen, Schlafanzüge, Handtücher, Unterhemden, Trainingsanzüge. Als ich an einer Baustelle vorbeifuhr, wurde aus dem Lautsprecher am Telefonmast gerade ein Fußballspiel übertragen; die Stimme des Reporters wirkte schläfrig, obgleich im Hintergrund die anfeuernden Rufe der Fans zu hören waren. Die Bauarbeiter ruhten sich im Inneren des mit Bambus eingerüsteten Gebäudes aus. Die skelettartigen Kräne und trommelgleichen Betonmischer standen still. Drei Schaufeln steckten in einem Sandhaufen, im Hintergrund verkündete eine gelbe Plakatwand mit riesigen roten Schriftzeichen: Steckt euch hohe Ziele und gebt euer Bestes. Ich fühlte, wie der Schweiß allmählich den Rücken meines Hemdes durchnässte.

Frau Yang war mit einer Gruppe von Tierärzten für ein Jahr nach Tibet gegangen. Man hatte sie zwar schriftlich über den Schlaganfall ihres Mannes unterrichtet, doch würde sie nicht so schnell zurückkommen können. Tibet war einfach zu weit weg. Mit verschiedenen Bussen und Zügen würde sie mindestens eine Woche unterwegs sein. In einem Brief schilderte ich Mei-mei, die in Beijing für ihre Zulassung zum Facharztstudium paukte, den Zustand ihres Vaters und versprach, mich um ihn zu kümmern. Sie solle sich keine Sorgen machen und vorerst in Beijing bleiben, da es ohnehin kein Wundermittel gegen Schlaganfälle gäbe.

Ehrlich gesagt fühlte ich mich meinem Lehrer gegenüber verpflichtet. Auch wenn ich nicht der Verlobte seiner Tochter gewesen wäre, hätte ich aus Dankbarkeit und Respekt diese Pflicht bereitwillig übernommen. Fast zwei Jahre lang widmete er mir nun schon seine Samstagnachmittage, diskutierte mit mir klassische Gedichte und Poetologie, gab mir Lektürehinweise, betreute meine Magisterarbeit und redigierte Artikel, die ich veröffentlichen wollte. Er war der beste Lehrer, den ich je hatte, ein Experte in Poetologie und ein hingebungsvoller Pädagoge. Einige meiner Kommilitonen hatten Probleme mit ihm. "Er fordert zu viel", sagten sie. Aber ich arbeitete gern unter seiner Anleitung. Es war mir egal, dass manche mich "Yang Junior" nannten; ich war tatsächlich so etwas wie sein Adept.

Als ich das Krankenzimmer betrat, schlief er. Er hing jetzt nicht mehr am Tropf, wie noch auf der Intensivstation. Das Zimmer schien ein Provisorium zu sein, denn es war ziemlich groß für ein einzelnes Bett und wirkte düster und feucht. Das quadratische Fenster ging nach Süden in den Hof des Krankenhauses hinaus, wo ein Berg Anthrazitkohle lagerte. Hinter dem Kohlehaufen spien zwei Betonschlote weißlichen Rauch in den Himmel, und die Kronen einiger Bäume bewegten sich träge. Dieser Hinterhof ließ an eine Fabrik denken, genauer an ein Heizkraftwerk; selbst die Luft wirkte grau. Ganz anders die Vorderseite des Krankenhauses, dort gab es einen Garten, der, fast schon ein Park, mit Stechpalmen, Trauerweiden, Sykomoren und Blumen bepflanzt war, darunter Rosen, Azaleen, Geranien und Iris. Es gab sogar einen kleinen Teich, angelegt aus Ziegeln und Bruchsteinen, in dem sich Goldfische mit fächerförmigen Schwänzen tummelten. Zwischen den Bäumen und Blumen ergingen sich weißbekittelte Ärzte und Schwestern, als hätten sie nichts Dringendes zu tun.

Obgleich der Raum schäbig war, stellte er doch ein großes Privileg dar; nur wenige Patienten hatten ein Krankenzimmer für sich allein. Wäre mein Vater, der als Zimmermann in einem Sägewerk im Nordosten arbeitete, in der gleichen Situation gewesen, so hätte er von Glück reden können, wenn sie ihn in ein Zwölfbettzimmer gesteckt hätten. Auch Herr Yang hatte drei Tage bewusstlos in einem solchen Zimmer gelegen, bevor er hierher verlegt wurde. Sekretärin Peng hatte entsprechenden Druck ausgeübt und die Klinikleitung davon überzeugt, dass Herr Yang ein herausragender Gelehrter sei (obgleich er noch kein ordentlicher Professor war), den der Staat in den Stand eines verdienten Wissenschaftlers zu erheben gedächte, weshalb sie ihm unbedingt ein Einzelzimmer geben müssten.

Herr Yang bewegte sich und öffnete die Lippen, die durch den Schlaganfall schlaff geworden waren. Im Vergleich zum vorigen Monat wirkte er um Jahre gealtert; ein Netz aus Falten hatte sich in sein Gesicht gegraben. Sein graues Haar war ungekämmt, es glänzte und ließ seine weißliche Kopfhaut durchschimmern. Mit geschlossenen Augen leckte er sich immer wieder die Oberlippe und murmelte etwas, das ich nicht verstand.

Ich saß in einem ausladenden Korbstuhl nahe der Tür und wollte gerade ein Buch aus meiner Umhängetasche nehmen, als Herr Yang die Augen aufschlug und ziellos im Raum umherschaute. Ich folgte seinem Blick und bemerkte, dass das ursprüngliche Rosa der Tapete nahezu völlig verblasst war. Seine Augen, von roten Äderchen durchzogen, wanderten zur Mitte der niedrigen Decke, wo sein Blick für einen Moment bei der nackten Glühbirne verharrte, die an einem dünnen Draht hing; dann fixierte er den Stapel japanischer Vokabelkärtchen in meinem Schoß.

"Hilf mir beim Aufsitzen, Jian", sagte er leise.
Ich trat an sein Bett, zog ihn an den Schultern hoch und stützte ihn mit zwei weichen Baumwollkissen, damit er bequem saß. "Geht es Ihnen heute besser?" fragte ich.

"Nein." Er hielt den Kopf gesenkt, eine Haarsträhne stand von seinem Kopf ab, in seiner rechten Wange zuckte ein Muskel.

Eine Minute lang saßen wir schweigend da. Ich wusste nicht, ob ich weiterreden sollte. Doktor Wu hatte uns gesagt, der Patient brauche vor allem Ruhe; eine Unterhaltung würde ihn womöglich aufregen. Obgleich man ein Blutgerinnsel im Hirn festgestellt hatte, war sein Krankheitsverlauf untypisch, und sein Sprachzentrum schien nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein; er redete artikuliert und bisweilen bemerkenswert flüssig.
Während ich noch überlegte, hob er den Kopf und brach das Schweigen. "Was hast du in letzter Zeit gemacht?" erkundigte er sich. Sein Tonfall klang, als hätten wir eine Besprechung in seinem Büro.

"Ich habe mein Japanisch-Lehrbuch noch einmal durchgearbeitet, für die Prüfung ..."

"So ein Quatsch!" versetzte er. Ich war zu schockiert, um zu antworten. Dann fuhr er fort: "Hast du schon mal in der Bibel gelesen?" Dabei sah er mich erwartungsvoll an.

"Ja, aber es war eine gekürzte Fassung." Von seiner Frage verwirrt erstattete ich ihm Bericht wie über eine Pflichtlektüre. "Letztes Jahr habe ich eine englische Kurzfassung mit dem Titel Geschichten aus der Bibel gelesen, die der Verlag für Fremdsprachenunterricht herausgegeben hat. Aber lieber wäre mir eine echte Bibel." Ein paar Anglistikstudenten aus dem Magisterstudiengang hatten sich schriftlich an christliche Organisationen in den Vereinigten Staaten gewandt und um Bibeln gebeten. Einige amerikanische Kirchen hatten daraufhin Pakete geschickt, doch bislang waren sie alle vom chinesischen Zoll abgefangen worden.

"Dann kennst du also die Schöpfungsgeschichte?" entgegnete Herr Yang.
"Ja, aber nicht vollständig."
"Gut, dann will ich sie dir jetzt in voller Länge erzählen."

Nach einer Pause begann er mit einer selbsterfundenen Version der Genesis, die er mit derselben Eloquenz vortrug wie seine Vorlesungen. Doch während im Hörsaal sein Lächeln und seine Gestik die Studenten gefesselt hatten, konnte er nun die Hand nicht mehr heben, und sein teilnahmslos herabhängender Kopf beschränkte das Blickfeld auf die weiße Bettdecke, die über seinen Knien lag. Aus seiner Nase drang ein Gurgeln, das seine Stimme kurzatmig und zittrig klingen ließ. "Als Gott Himmel und Erde erschuf, machte er alle Kreaturen gleich. Er hatte nicht vor, den Menschen über die Tiere zu erheben. Alle Lebewesen erfreuten sich nicht nur derselben Lebensweise, sondern auch derselben Lebensspanne. Sie waren in jeder Hinsicht gleich."

Was für eine Schöpfungsgeschichte ist das? fragte ich mich. Er ist völlig verwirrt und denkt sich das bloß aus.

"Warum lebt der Mensch dann länger als die meisten Tiere?" fuhr er fort. "Warum unterscheidet sich sein Leben so sehr von dem anderer Kreaturen? Die Genesis begründet dies mit der Gier und der List des Menschen, der sich viele Lebensjahre vom Affen und vom Esel angeeignet hat." Hier kniff er die Augen zusammen und stieß mit aufgeblasenen Wangen die Luft aus. Ein Fächer aus Fältchen zog sich von den Augenwinkeln zu seinen Schläfen.

"Eines Tages stieg Gott vom Himmel herab, um die von ihm geschaffene Welt zu inspizieren. Affe, Esel und Mensch kamen, um Gott dankbar und ehrerbietig zu begrüßen. Gott fragte sie, ob sie mit ihrem Leben auf Erden zufrieden seien, und alle bestätigten es ihm.
'Hat jemand noch Wünsche?' fragte Gott.
Nach einigem Zögern trat der Affe vor und sagte: 'Herr, die Erde ist ein idealer Lebensraum für mich. In deiner Güte hast du viele Bäume reich mit Früchten gesegnet, so dass es mir an nichts mangelt. Aber warum lässt du mich bis zum Alter von vierzig Jahren leben? Wenn ich die Dreißig überschritten habe, werde ich alt sein und kann nicht mehr auf Bäume klettern, um Früchte zu pflücken. Also werde ich mich mit dem zufriedengeben müssen, was mir die jungen Affen abgeben, und manchmal werde ich die Butzen und Schalen fressen müssen, die sie wegwerfen. Der Gedanke, von ihren Abfällen leben zu müssen, schmerzt mich. Ich möchte kein so langes Leben, Herr. Ich würde eine kürzere, dafür aber aktivere Existenz vorziehen.' Damit trat er ängstlich zitternd zurück, denn er wusste, dass es eine Sünde war, sich den Gaben Gottes gegenüber undankbar zu zeigen.

'Dein Wunsch sei dir erfüllt', erklärte Gott ohne den leisesten Unmut. Dann wandte er sich an den Esel, der bereits mehrere Male stumm das Maul geöffnet hatte, und fragte auch ihn, ob er einen Wunsch habe.

Schüchtern trat der Esel einen Schritt vor und sagte: 'Herr, ich habe dasselbe Problem. Eure Gnade hat das Land mit so viel Gras gesegnet, dass ich mir das zarteste zu meiner Speise auswählen kann. Und auch wenn der Mensch mich erniedrigt und für sich arbeiten lässt, beklage ich mich nicht, denn du gabst ihm mehr Hirn und mir mehr Muskeln. Doch eine Lebensspanne von vierzig Jahren ist zu lang für mich. Wenn ich alt werde und meine Beine nicht länger kräftig und behende sind, muss ich dennoch schwere Lasten für den Menschen tragen und seine Peitschenhiebe erdulden. Das ist ein hartes Los. Bitte nimm auch von meinem Leben zehn Jahre weg. Ich möchte lieber ein kürzeres Leben ohne Alter.'

'Dein Wunsch sei dir gewährt', Gott hatte gerade seinen großzügigen Tag und war bereit, ihre Wünsche zu erfüllen. Dann wandte er sich an den Menschen, der ebenfalls etwas auf dem Herzen zu haben schien. 'Hast du auch Beschwerden, Adam?' fragte er. 'Sprich nur!'

Der Mensch hatte Angst, denn schließlich misshandelte er die Tiere und hätte eine Strafe verdient gehabt. Er trat aber dennoch vor und sagte: 'Großmächtiger Herr, ich ergötze mich an allem, was du geschaffen hast. Du gabst mir ein Gehirn, das es mir ermöglicht, die Tiere zu überlisten, weshalb sie mir willig und gehorsam dienen. Im Gegensatz zum Affen und zum Esel ist eine Lebensspanne von vierzig Jahren zu kurz für mich. Ich würde gern länger leben und möchte mehr Zeit mit meiner Frau Eva und meinen Kindern verbringen. Selbst wenn mir im Alter die Glieder steif werden, so kann ich immer noch mein Hirn einsetzen, um mein Leben zu meistern. Ich kann Befehle erteilen, andere unterrichten oder Bücher schreiben. Bitte überlass mir die zwanzig Jahre der beiden anderen.' Der Mensch beugte sein Haupt, denn ihm war klar, dass es eine Sünde war, sich über die Tiere zu erheben.

Zu seinem Erstaunen schalt Gott ihn nicht, sondern erwiderte statt dessen: 'Dein Wunsch sei dir gewährt. Und da du dich so sehr an meiner Schöpfung erfreust, will ich dir noch zehn Jahre dazugeben. Dann hast du insgesamt siebzig Jahre zu leben. Genieße dein Alter im Kreise deiner Enkel und Urenkel und mach guten Gebrauch von deinem Hirn.' "

Hier machte Herr Yang eine Pause. Er sah blass und angestrengt aus, Schweißperlen glitzerten auf seiner Nase, und die Ader an seinem Hals pulsierte. Dann sagte er betrübt: "An jenem Tage waren Esel, Affe und Mensch rundherum zufrieden. Seither kann der Mensch siebzig Jahre leben, wohingegen Esel und Affen nur dreißig Jahre alt werden."

Er verstummte abermals, doch das Keuchen hielt an. Diese Version der Genesis, die er so flüssig vortrug, als hätte er sie auswendig gelernt, irritierte mich. Während ich noch über den Gehalt der Geschichte nachsann, sagte er plötzlich: "Meine Schöpfungsgeschichte macht dir Kopfzerbrechen, wie?" Ohne meine Antwort abzuwarten fuhr er fort: "Ich will sie dir erklären."
"Gut", murmelte ich.

"Genossen", predigte er, "das Leben des Menschen kann nicht isoliert von dem der Affen und Esel betrachtet werden. Die ersten zwanzig Jahre lebt der Mensch ein Affenleben. Er macht dumme Streiche, klettert auf Bäume und Mauern und tut, was ihm gerade in den Sinn kommt. Diese Phase, die seine glücklichste ist, vergeht schnell. Dann kommen die nächsten zwanzig Jahre, in denen der Mensch das Leben eines Esels lebt. Jeden Tag muss er hart arbeiten, um Nahrungsmittel und Kleidung für seine Familie heranzuschaffen. Oft ist er so erschöpft wie ein Esel nach langer, ermüdender Wegstrecke, doch er muss sich auf den Beinen halten, da seine Familie ihm im Nacken sitzt und ihn zum Weitermachen zwingt. So geht das, bis er vierzig ist. Dann beginnt das menschliche Leben. Inzwischen ist sein Körper verbraucht, seine Glieder sind schwach und schwerfällig, und er muss sich ganz auf sein Hirn verlassen, doch auch das arbeitet nicht mehr so schnell und effektiv wie früher. Manchmal möchte er über seine vergeblichen Bemühungen in Tränen ausbrechen, doch sein Hirn warnt ihn: 'Tu das nicht. Reiß dich zusammen. Dir bleiben noch so manche Jahre.' Jeden Tag stopft er neue Gedanken und Empfindungen in sein Hirn hinein, wo bereits große Mengen davon lagern. Da nichts hinaus kann, um dem Neuen Platz zu machen, ist sein Hirn eines Tages so überfüllt, dass es nur noch platzen kann, einem Dampfkochtopf vergleichbar, dessen Ventil verstopft ist, während das Feuer darunter immer weiter brennt. Dann ist der einzige Ausweg die Explosion."

Ich war erstaunt von seiner wilden Interpretation; er schien von seinem eigenen Leben zu sprechen und davon, auf welche Weise er den Verstand verloren hatte. Er legte den Kopf zurück und ließ sich in die Kissen sinken. Trotz seiner Erschöpfung wirkte er erleichtert. Stille senkte sich über den Raum.

Wieder dachte ich an seine biblische Geschichte; ich fragte mich, auf welche Quellen sie wohl zurückzuführen war. Vermutlich hatte er sie sich selbst zusammengeschustert, indem er ein paar Volkslegenden mit seiner eigenen Fantasie anreicherte. Aber warum hatte er sie mir nun unbedingt erzählen wollen? Nie zuvor hatte er Interesse an der Bibel gezeigt, doch insgeheim beschäftigte er sich offenbar schon geraume Zeit mit ihr.

Er begann jetzt leise zu schnarchen; sein Kopf war zur Seite gerutscht. Ich ging zu ihm hinüber, nahm die Kissen weg und legte ihn vorsichtig hin. Ein schwaches Stöhnen war seine einzige Reaktion.
Bald darauf schlief er fest. Ich nahm wieder meine japanischen Kärtchen zur Hand und lernte Vokabeln. Obgleich ich Japanisch, das mir wie Entengequake vorkam, nicht mochte, musste ich meinen Kopf für die Zulassung zur Promotion mit all diesen Vokabeln und Grammatikregeln vollstopfen, denn man musste eine zweite Fremdsprache nachweisen. Mein Japanisch war schlecht, da ich es erst seit einem Jahr lernte. Englisch, meine erste Fremdsprache, beherrschte ich wesentlich besser.

Eine alte gebeugte Krankenschwester kam herein, um nach Herrn Yang zu sehen. Sie wirkte grau wie eine Maus, hatte ein Mondgesicht, und ihre großen, knochigen Hände ließen auf riesige Entenfüße schließen. Sie stellte sich als Jiang Hong vor. Da sie sah, dass mein Lehrer schlief, machte sie keine Anstalten, ihm den Puls zu fühlen oder Temperatur und Blutdruck zu messen. Ich fragte sie, ob er bald wieder gesund werden würde, und sie erklärte, dass es davon abhinge, ob das Gerinnsel im Hirn sich auflösen würde. Wenn nicht, gäbe es keine Heilungschancen für ihn. "Aber machen Sie sich keine Sorgen", sagte sie, während sie den Spucknapf neben dem Bett aufhob. "Viele Leute erholen sich nach einem Schlaganfall. Manche leben danach noch zwanzig Jahre. Ihr Lehrer kann durchaus wieder gesund werden."

"Das hoffe ich", erwiderte ich mit einem Seufzer.
"Jetzt braucht er vor allem Ruhe. Schonen Sie ihn. Wenn er sich zu sehr aufregt, könnte eine Ader im Hirn platzen, die eine Blutung verursacht." Den weißen Spucknapf in der einen Hand stellte sie die schmutzigen Teller, Schalen und Löffel auf dem Nachttisch zusammen. Dann legte sie ein Paar lackierte Essstäbchen oben auf den Stapel. Ich erhob mich, um ihr zu helfen.

"Lassen Sie nur. Das schaffe ich schon", sagte sie und ließ den Spucknapf aus Versehen in meine Richtung kippen. Nur knapp konnte ich dem Klumpen gelber Flüssigkeit ausweichen, der vor mir auf den Holzboden klatschte.

"Hoppla! Tut mir leid." Sie grinste und hob vorsichtig den Geschirrstapel hoch. In gekrümmter Haltung eilte sie zur Tür. Sie war so dünn, dass sie mich an eine ausgemergelte Henne erinnerte. Ich hielt ihr die Tür auf.

"Danke. Sie sind ein hilfsbereiter junger Mann", sagte sie, während sie den Korridor hinunterschlurfte. Ich griff zum Mop hinter der Tür und wischte den Klumpen weg.

Ihre Erklärung zu Herrn Yangs Schlaganfall tröstete mich ein wenig. Ich hatte immer geglaubt, eine Gehirnthrombose werde durch ein geplatztes Blutgefäß verursacht. Zum Glück handelte es sich in seinem Fall lediglich um einen Pfropf.


(Aus "Verrückt" von Ha Jin.
Übersetzt von Susanne Hornfeck.)

"Alle waren überrascht, als Professor Yang im Frühjahr 1989 einen Schlaganfall erlitt." 
Mit diesem Satz beginnt der Student Jian den Bericht über die Zeit, in der seine Welt sich zu verrücken begann. Jeden Tag wacht Jian am Krankenbett seines Lehrers und angesehenen Literaturprofessors der Universität in Shanning.
Was zunächst aussieht wie eine einfache, wenn auch ungelegene Pflichterfüllung, wird zunehmend rätselhaft, ja gefährlich, als Herr Yang plötzlich beginnt, wirres Zeug von sich zu geben: unsichtbare Peiniger fleht er um Gnade an, er singt Revolutionslieder, schwärmt von einer Geliebten mit Brüsten wie Pfirsiche, rezitiert Stellen aus Dantes "Göttlicher Komödie", beschimpft seine Familie, seine Kollegen und das Hochschulsystem, in dem ein Gelehrter nichts weiter sei als ein Vieh auf der Schlachtbank. Seine gerade fertiggestellte Übersetzung des Brechtschen Theaterstücks "Der gute Mensch von Sezuan" ruht hingegen unbeachtet auf der Fensterbank.
Ist sein Professor nicht mehr ganz richtig im Kopf oder spricht er im Wahn gar die Wahrheit?
Während Jian damit beschäftigt ist, den geheimnisvollen Äußerungen einen Sinn zu entlocken, ziehen sich nicht nur die Wolken über Beijing und den protestierenden Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens zusammen, auch in Jians Fakultät nimmt das grausame Spiel um die Macht seinen Lauf.
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