Tim Mücke (Hrsg.): "Entlang der Seidenstraße mit der Märchenerzählerin Maria Schild"
Ein gut gelungenes Konglomerat aus Reisebericht und Märchenbuch
"Mit Märchen und Mythen sind wir 
  unabhängig von Raum und Zeit, von Grenzwächtern und politischem Wahnsinn" 
  ist die Berliner Geschichtenerzählerin Maria Schild überzeugt. Von China aus 
  macht sie sich auf die Reise - der alten Handelsroute Seidenstraße folgend - 
  bis in den Libanon. Bei jeder Zwischenstation taucht die Deutsche tief in das 
  Lokalkolorit ein und erzählt ihren Gastgebern, seien es Chinesen, 
  Usbeken, Iraner oder Araber ein Märchen aus deren Kulturkreis. Eine Europäerin 
  in der Fremde, die Jahrhunderte alte orale Traditionen der Asiaten aufrecht 
  erhält - welch interessante Ausgangsposition für ein Buch.
  
Der mit einem sehr 
ästhetischen Cover aufwartende Band "Entlang der Seidenstraße" ist der 
zweite der Reihe "Blaue Karawane". Schon für Band I zog es Maria Schild 
Märchen erzählend bis nach Asien, und zwar "Von Moskau an den Amur". 
Band III, "Nach Mesopotamien", wartet mit Legenden über 
Gilgamesch 
und andere Heroen auf. Verweilen wir aber auf der Seidenstraße, die ihren Namen 
Mitte des 19. Jahrhunderts vom deutschen Forscher Friedrich von Richthofen 
erhalten hat und die im alten China "Kaiserweg" hieß. Marco Polo reiste auf ihr 
im 13. Jahrhundert von Venedig bis ins Reich der Mitte an den Hof des 
Mongolenherrschers 
Kublai 
Khan.
  Maria Schild wählt die umgekehrte Route von Ost nach West. Ihren Ausgangspunkt 
  bildet die alte Kaiserstadt Chang-an, das heutige Xi-an. 
Drachen 
  haben dort - wie in ganz China - eine positive Symbolik. Ein Drache soll es 
  gewesen sein, der aus dem Weltenei schlüpfte und Himmel und Erde samt dem Meer 
  und den Sternen schuf. Aus seinem Knochenmark bildete sich Jade, aus seinem 
  Samen entstanden Perlen. Die Menschen hingegen hatten ihren Ursprung in den 
  Flöhen, die im Drachenhaar nisteten. Mit diesem Schöpfungsmythos nehmen die 
  von Maria Schild reanimierten Märchen ihren Anfang. Sie selbst sieht sich in 
  der Schule der traditionellen chinesischen Erzähler. Diese waren angewiesen, 
  althergebrachte Geschichten in immer neuen Farben zu malen und sie mit überraschenden 
  Details zu schmücken. Die Güte eines Erzählers hing von seiner Fähigkeit zur 
  spontanen Improvisation ab.
  
Nach Chang-an geht Schilds 
Märchenweg über Hunderte von Kilometern in den äußersten Westen Chinas, zur 
Oase Turphan, die vom Turkvolk der Uiguren bewohnt wird und wo das 
Geschichtenerzählen vor versammelter Runde uraltes Kulturgut darstellt. Von den 
Jurten der Uiguren teilt sich die Seidenstraße in eine Nord- und Südroute rund 
um die Wüste Taklamakan, den "Ort ohne Wiederkehr". Station danach ist 
Samarkand. Die heute in Usbekistan gelegene Stadt war im 15. Jahrhundert 
der architektonisch wie kulturell prunkvolle Mittelpunkt des Mongolenreichs von 
Timur Khan. Hundert Jahre später lebte der große Gelehrte und Astronom Ulug Bek 
in Samarkand. Vom genius loci beflügelt gibt Maria Schild das Märchen 
"Die heldenhafte Tura Beka Khanim" zum Besten. Durch Mut und List soll 
es dieser Prinzessin gelungen sein, einen lüsternen Fremdherrscher auszutricksen 
und ihr Volk zu retten.
Nächster Halt Buchara. Umgeben von 
Wasserbecken und Maulbeerbäumen steht am bekanntesten Platz der Stadt das 
Standbild von Hodscha 
Nasreddin, besser bekannt als "weiser Narr des Orients". Schild erzählt 
ihren usbekischen Gastgebern folgende Episode aus Nasreddins 
Leben.
Einmal sprach Nasreddin, nachdem er in der Moschee auf den 
Gebetsstuhl gestiegen war: "Leute, wisst ihr, was ich euch zu sagen 
habe?"
Die Zuhörer antworteten: "Nein, das wissen wir nicht." Da stieg 
Nasreddin zornig von der Kanzel herunter und rief: "Ich werde euch, die ihr 
unwissend seid, nichts sagen."  
Sprach's und ging fort.
Am nächsten Tag, nachdem er sich wieder auf 
dem Gebetsstuhl niedergelassen hatte, wiederholte er die Frage des vorherigen 
Tages. Die Leute berieten sich untereinander und dann antworteten sie: "Ja, wir 
wissen, was du sagen willst." Da erwiderte Nasreddin: "Nun, da ihr es schon 
wisst, brauch' ich es euch nicht mehr zu erklären." Damit stieg er von dem 
Gebetsstuhl herunter und ließ alle verwirrt zurück.
Nachdem er gegangen 
war, vereinbarte die Gemeinde folgendes: Wenn Nasreddin die Frage noch einmal 
wiederholen sollte, dann würde die Hälfte von ihnen sich wissend zeigen und die 
andere Hälfte unwissend. Auf diese Weise hofften sie Nasreddin zum Reden zu 
bringen.
Als Nasreddin dann am dritten Tag wieder auf den Gebetsstuhl 
stieg und seine Frage wiederholte, erwiderten die einen: "Wir wissen es", und 
die anderen gaben vor: "Wir wissen es nicht". Da erwiderte Nasreddin in aller 
Milde: "Das ist ja vorzüglich, dann können es die, die es wissen, denen, die es 
nicht wissen, mitteilen", und ging seiner Wege.
Ein andermal soll es sich 
zugetragen haben, dass der Herrscher Nasreddin aufforderte, zur Bärenjagd 
mitzugehen. Missmutig willigte dieser ein. Als er zurückkehrte, bedrängten ihn 
die Dörfler mit Fragen:
"Wie war die Jagd?" Er antwortete: "Wunderbar". "Wie 
viele Bären habt ihr denn getötet?" "Keinen." "Und wie viele habt ihr gejagt?" 
"Keinen." "Und wie viele habt ihr gesehen?" "Keinen." "Und wie kannst du dann 
sagen, dass es wunderbar war?" "Weil bei der Bärenjagd keiner schon genug ist", 
antwortete der Hodscha. Wahrlich ein weiser Mann!
Auch der große Arzt und 
Philosoph Ibn Sina, im Abendland besser als Avicenna bekannt, lebte und lehrte 
in Buchara, ehe er vor den Nachstellungen seiner Gegner ins persische 
Isfahan flüchten musste. Maria Schild tut es ihm aus freien Stücken 
gleich und besucht mit einem guten Märchen auf den Lippen die immer noch 
faszinierende Stadt, ehe sie durch die Wüste weiter nach Schiraz reist, 
wo einst der Dichter Hafiz weilte, den Goethe 
voller Euphorie "geistigen Bruder" nannte.
Da die iranisch-irakische 
Grenze für Reisende geschlossen ist, fährt Maria Schild über Syrien nach 
Bagdad, um das "1001 
Nacht"-Flair von 
Harun 
al-Raschid einzusaugen. Trotz seiner Macht und Weisheit schien dieser große 
Kalif gehörig Angst vor seiner Frau Zubaida gehabt zu haben, wie amüsante 
Anekdoten über seine Amouren preisgeben. Sehr empfehlenswert liest sich Schilds 
Parabel "Von der Frau und ihren fünf Liebhabern", die etwas anderes hält als der 
Titel verspricht.
Im syrischen Teil der Seidenstraße macht Maria Schild 
in der antiken Handelsmetropole Palmyra halt. Zwei Jahrhunderte nach 
Christus regierte dort die stolze Beduinenkönigin Zenobia, die Wissenschaft und 
Kunst schätzte wie förderte. Von dieser Oase geht es nach Damaskus, 
Syriens Hauptstadt. Auf dunkelroten Teppichen sitzend trägt die deutsche 
Märchenerzählerin Gedichte des islamischen Mystikers Rumi vor, ehe sie bei 
Tee und Wasserpfeife im Café einem der Hakawati ihr Ohr leiht. Diese Erzähler 
tischen den Gästen in lautem Tonfall und mit martialischen Gesten 
Heldengeschichten über Sultan Saladin auf. Zur Bekräftigung der Bravourstücke im 
Kampf gegen die Kreuzritter lässt der Erzähler ein Damaszener Schwert auf ein 
Metalltischchen niedersausen. Erzählerisches Stilmittel á la Orient. Die Zuhörer 
quittieren die Darbietung mit Beifall.
  Letzte Station auf der Seidenstraße von Zentralchina bis zur Levante bildet 
  der Libanon. Am Mittelmeer gelegen sind 
  Baalbek, Tyros und Byblos, allesamt uralte phönizische 
  Handelszentren. Nach ihrem Besuch klingt Maria Schilds Erzähltour mit der Geschichte 
  "Der Zedernbaum" aus.
  
"Entlang der Seidenstraße" ist 
eine gelungene Mischung aus Märchenbuch und 
Reisebericht. 
Wer genau liest, wird zudem von einer usbekischen Version des 
Hänsel-und-Gretel-Themas 
ins Staunen gebracht. Das Brüder-Grimm-Motiv mitten in der Steppe Zentralasiens? 
So steht’s geschrieben. Und Märchen lügen bekanntlich nie.
Um Maria 
Schilds Zeilen gebührend genießen zu können, empfiehlt es sich, die Hektik mal 
kurz auszusperren, ganz nach der arabischen Weisheit: "Allah schenkte den 
Europäern die Uhren, und uns, den Orientalen, die Zeit."
(lostlobo; 06/2004)
Tim Mücke: "Entlang der Seidenstraße 
mit der Märchenerzählerin Maria Schild"
Hans Schiler, 2003. 112 
Seiten.
ISBN 3-89930-019-X.
ca. EUR 17,30. 
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Ergänzende 
Buchempfehlungen:
Tim Mücke (Hrsg.): "Von Moskau an den Amur mit der 
Märchenerzählerin Maria Schild"
Blaue Karawane. Band 1.
Unermüdlich 
rattert die Transsibirische Eisenbahn durch die russische Weite von Moskau nach 
Wladiwostok. Zwischen dampfendem Tee und vorbeiziehenden Birkenhainen verkürzt 
die Märchenerzählerin den Passagieren die Tage, indem sie sie ins Reich der 
Prinzen, Hutzelweiblein und 
Schamanen 
entführt.  
  Je nach Etappe ihrer Fahrt erzählt Maria Schild in dem zauberhaften Buch "Von 
  Moskau 
an den Amur" meist ein geografisch 
  passendes Märchen. Zwischen diesen wundersamen Überlieferungen verpackt Maria 
  Schild ihre eigenen Reiseeindrücke und Begegnungen immer wieder in kurze, auflockernde 
  Episoden. Der liebevoll gestaltete Einband bildet den Lebensbaum der Amurvölker 
  ab. (Hans Schiler)
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"Nach Mesopotamien mit der 
Märchenerzählerin Maria Schild"
Blaue Karawane. Band 3.
Die dritte 
Reise der Blauen Karawane mit der Märchenerzählerin Maria Schild führt nach 
Mesopotamien - ins Zweistromland - in das heutige Syrien und den Irak. Es ist 
eine Reise zu den Anfängen unserer Zivilisation. (Hans Schiler)
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