Christoph Ransmayr: "Die Schrecken des Eises
        und der Finsternis"
      Gesprochen vom Autor
        (Hörbuchrezension)
Die Erfindung der
          Wirklichkeit
          
          "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" ist eine Geschichte von
          der Geschichte und der Geschichtenmacherei: Eine Hinterfragung der
          Geschichte nach ihrem Sinn.
        
        Alle Längengradlinien kreuzen sich zweimal auf der Erde: am
        Nordpol und am Südpol.
        Keine besonderen Zeichen, Monumente oder andere fassbare
        Naturphänomene
        definieren diese geografischen Extrempunkte - außer der
        Tatsache, dass dort
        sechs Monate die Sonne am Himmel steht, und dann dem Tag die ebenfalls
        sechsmonatige Polarnacht folgt.
        Dennoch unternahmen Forscher und Abenteurer enorme Anstrengungen, diese
        Punkte, die nur im menschlichen Geist existieren, zu erreichen.
        So gehörten die 
	Südpolexpeditionen
          von Scott und
          Amundsen wohl zu den
        dramatischsten Entdeckungsreisen, die es je gab.
        
        Nicht weniger Dramatik umfasste die 1872 begonnene, von Julius Payer
        und Carl Weyprecht kommandierte österreichisch-ungarische
        Nordpolexpedition, die im
        August 1873 - nachdem das Schiff festgefroren war - einen unter
        Gletschern
        liegenden Archipel entdeckte und ihm nach alter Entdeckersitte den
        Namen des 
	Kaisers
        gab: "Franz-Josefs-Land". Unter entsetzlichen Entbehrungen
        wird das Land vermessen. 1874, nach zwei polaren Wintern, versucht sich
        die Mannschaft unter beinahe übermenschlichen Anstrengungen zu
        Fuß und mit Beibooten in die Barentssee, in Richtung Süden, aufzumachen,
        wo sie von der Besatzung eines russischen Fischereischiffes gerettet
        wird.
        
        Dieser wahren Eismeerexpedition setzt Christoph Ransmayr die fiktive
        Gestalt des Italieners Mazzini entgegen. Josef Mazzini ist seit seiner
        Kindheit von
        den großen Arktis-Entdeckern ebenso besessen wie von ihrem Scheitern.
        Die Rolle
        des Chronisten genügt ihm nicht, er muss in gewisser Weise die
        Erlebnisse der historischen Polarforscher in seinem Leben nachstellen.
        Er
        schließt sich 1981 - hundert Jahre später - einer norwegischen
        Nordpolexpedition
        an. Eine Reise, von der er nicht zurückkehrt. Nur seine Tagebücher
        bleiben, so wie auch die Tagebücher
        der Expedition des vorletzten Jahrhunderts.
        
        Beide Haupthandlungsstränge werden parallel erzählt,
        wobei die ursprüngliche Expedition durch Tagebucheintragungen
        verschiedener Teilnehmer deutlich
        mehr Platz einnimmt und auch mehr im Zentrum dieses Romans steht. Der
        Autor
        integriert sich als eine Person, die Mazzini flüchtig gekannt
        hat, in die Handlung.
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                    Christoph Ransmayr liest den ungekürzten Roman "Die
                    Schrecken
                    des Eises und der Finsternis" selbst vor. | 
Da der Erzähler sich immer
        wieder auf
        Tagebucheintragungen beruft, die seinen Angaben zufolge allesamt
        historisch sind, dies aber
        offensichtlich für die "Mazzini-Tagebücher" nicht zutreffen kann, stellt
        sich
        bald die Frage nach dem Verhältnis der vom Erzähler
        destillierten "Wahrheits-Zutaten" zu den Beimischungen seiner Fantasie.
        
        "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" gibt vor, keinen Anfang
        und kein Ende zu haben, und doch ist das (Hör-)Buch von einer
        Dichte und Abgeschlossenheit, dass man unwillkürlich mitgerissen wird.
        Sowohl die Geschichte selbst, als auch die Art, Geschichte zu machen und
        ihren
        Sinn zu hinterfragen, expliziert Ransmayr wunderbar. Dabei tastet der
        Roman
        nach jener "Formel", die das Menschliche im Menschen ausmacht und probt
        Grenzsituationen menschlichen Verhaltens an jener Grenze, die auch die
        Grenze des Lebens ausmacht.
        
        Gleichzeitig wird auf die Tradition einer Kultur und einer
        Geschichtsschreibung hingewiesen, in der nur die Sieger eingetragen
        werden und nur jene
        Toten zählen und gezählt werden, die in diesen Eroberungskämpfen
        mit der Natur umgekommen sind: "Wer auf einem Fischkutter
          rettungslos ins Eis
          gerät und ersäuft, verhungert oder erfriert, hat keinen Anspruch auf
          eine historische
          Notiz. (...) Wer seine Arbeit auf einem Fangschiff verrichtet, hat
          keinen Anspruch
          auf Ruhm. Aber den Expeditionen, und seien sie noch so erfolglos, ein
          Denkmal."
        Das kollektive Gedächtnis braucht Helden, doch es gibt genaue,
        quasi institutionalisierte Spielregeln, die entscheiden, wer als Held
        gelten darf.
        
        Ransmayr verfügt über eine hohe Vortragskunst, doch
        setzt er seine Mittel sparsam ein, verzichtet auf Pathos. Der
        distanzierte, jedoch keineswegs
        leidenschaftslose Ton des Erzählers findet in der Intonation
        des Autors seine Entsprechung. Seine gleichmäßig ruhige, niemals
        dramatisierende Stimmlage gibt die Kälte und Trostlosigkeit des Eises
        grandios wieder. Dem
        Hörer wird beinahe physisch kälter und kälter. Gleichzeitig vermag
        Ransmayr jedoch durch seine behutsame, beinahe zärtliche Lesung den
        Gestalten Leben
        einzuhauchen.
        
        "So meisterlich, wie Ransmayr Essay, Roman und Dokumentation
          verschachtelt, erfasst sein Echolot die menschlichen Untiefen
          angesichts zarter Schneeblüten und des gleichgültigen Kriegs der
          Eisschollen. Seinen schauerlich spannenden Roman liest Ransmayr ohne
          den Scheinfrost gespielter
          Stimmkälte, sondern mit polarweher Sanftheit und einer allen Schichten
          des Werks
          gerechten Emphase, der wohl nur der Autor fähig ist", schrieb
        "DIE ZEIT". Dem kann uneingeschränkt zugestimmt werden.
        
        Fazit:
        Das Hörbuch "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" ist
        eine Spurensuche nach dem Weg der Vorgänger, eine Deutung der
        vorgefundenen Zeichen, ein Prozess des (Er-)Findens und das Erfragen und
        Hinterfragen der
        menschlichen Existenz am Randgebiet der Welt und des Menschlichen -
        beeindruckend
        gelesen vom Autor selbst.
(Heike Geilen; 09/2007)
Christoph Ransmayr: "Die Schrecken des
          Eises und der Finsternis"
        Ungekürzt gesprochen vom Autor.
        Random House Audio - Hörbuch Editionen, 2007. 6 CDs; Laufzeit
        ca. 406 Minuten.
        
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Christoph Ransmayr, geboren
        1954
        in Wels/Oberösterreich,
        studierte Philosophie
        und 
	Ethnologie.
        
        Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
          
          "Atlas eines ängstlichen Mannes"
        Ein großer erzählter Weltatlas. Christoph Ransmayrs "Atlas eines
        ängstlichen Mannes" ist eine einzigartige, in siebzig Episoden durch
        Kontinente, Zeiten und Seelenlandschaften führende Erzählung. "Ich
          sah ...", so beginnt der Erzähler nach kurzen Atempausen immer
        wieder und führt sein Publikum an die fernsten und nächsten Orte dieser
        Erde: In den Schatten der Vulkane 
	Javas, an die Stromschnellen von 
	Mekong
        und Donau,
        ins hocharktische Packeis und über die Passhöhen des Himalaya bis zu den
        entzauberten Inseln der Südsee. Wie Landkarten fügen sich dabei Episode
        um Episode zu einem Weltbuch, das in Bildern von atemberaubender
        Schönheit Leben und Sterben, Glück und Schicksal der Menschen
        kartografiert. (S. Fischer)
        
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          "Der fliegende Berg"
        "Der fliegende Berg" ist die Geschichte zweier Brüder, die von
        der Südwestküste Irlands in den Transhimalaya, nach dem Land Kham und in
        die Gebirge
        Osttibets aufbrechen, um dort, wider besseres (durch Satelliten und
        Computernavigation gestütztes) Wissen, einen noch unbestiegenen
        namenlosen Berg
        zu suchen, vielleicht den letzten Weißen Fleck der Weltkarte. Auf ihrer
        Suche begegnen die Brüder nicht nur der archaischen, mit chinesischen
        Besatzern
        und den Zwängen der Gegenwart im Krieg liegenden Welt der Nomaden,
        sondern auf sehr
        unterschiedliche Weise auch dem Tod. Nur einer der beiden kehrt aus den
        Bergen ans Meer und in ein Leben zurück, in dem er das
        Rätsel der Liebe als sein und seines verlorenen Bruders tatsächliches,
        lange verborgenes,
        niemals ganz zu vermessendes und niemals zu eroberndes Ziel zu begreifen
        beginnt.
        Verwandelt von der Erfahrung, ja der Entdeckung der Wirklichkeit, macht
        sich der
        Überlebende am Ende ein zweites Mal auf den Weg. (S. Fischer)
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            "Die letzte Welt"
        Als Christoph Ransmayrs Roman "Die letzte Welt" 1988 erschien, wurde
        er von der Kritik gefeiert wie kaum ein anderer - wegen seiner
        poetischen, rhythmischen Sprache, wegen seiner stilistischen Eleganz,
        aber auch
        wegen seiner bildmächtigen Traum- und Alptraumwelten. In diesem Roman
        ist
        die Verbannung des römischen Dichters Ovid durch 
	Kaiser
          Augustus im Jahre 8 n.
        Chr. der historisch fixierte Ausgangspunkt einer fantasievollen Fiktion.
        Der Römer
        Cotta, sein - durch Ovids Briefe aus der Verbannung - ebenfalls
        historisch belegter
        Freund, macht sich in Tomi am Schwarzen Meer auf die Suche: nach dem
        Verbannten, denn in Rom geht das Gerücht von seinem Tod, als auch nach
        einer
        Abschrift der Metamorphosen,
        dem legendären Hauptwerk Ovids. Cotta trifft in der "eisernen
        grauen Stadt" Tomi jedoch nur auf Spuren seines Freundes, Ovid selbst
        begegnet er nicht. Er findet dessen verfallenes Haus im Gebirge, den
        greisen Diener Pythagoras und, je komplizierter und aussichtsloser sich
        die
        Suche gestaltet, immer rätselhaftere Zeichen der Metamorphosen - in
        Bildern, Figuren, wunderbaren Begebenheiten. Bis sich zuletzt Cotta
        selbst in der
        geheimnisvoll unwirklichen Welt der Verwandlungen zu verlieren scheint:
        die
        Auflösung dieser "letzten Welt" ist wieder zu Literatur geworden.
        (Fischer) 
        zur Rezension ...
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          "Morbus Kitahara"
        "Der Friede von Oranienburg" ist der Name für die Jahre und
        Jahrzehnte nach einem großen Krieg. Aber dieser Name
        bezeichnet keine Epoche
        des Wiederaufbaus, sondern eine der Sühne, der Vergeltung und
        Rache. Nach dem Willen der Sieger sollen die geschlagenen Feinde aus den
        Ruinen ihrer
        Städte und Industrien zurückkehren auf die Rübenfelder und
        Schafweiden eines vergangenen Jahrhunderts. Drei Menschen begegnen sich
        im Moor, einem
        verwüsteten Kaff an einem See im Schatten des Hochgebirges. Ambras, der
        "Hundekönig" und ehemaliger Lagerhäftling, wird Jahre nach seiner
        Befreiung
        Verwalter jenes Steinbruchs, in dem er als Gefangener gelitten hat.
        Verhasst und
        gefürchtet haust er mit einem Rudel verwilderter 
	Hunde
        im zerschlissenen Prunk der Villa
        Flora. Lily, die "Brasilianerin", die Grenzgängerin zwischen
        den Besatzungszonen, die vom Frieden an der Küste des fernen
        Landes träumt, lebt zurückgezogen in den Ruinen eines Strandbades. An
        manchen
        Tagen aber steigt sie ins Gebirge zu einem versteckten Waffenlager aus
        dem Krieg, verwandelt
        sich dort in eine Scharfschützin und macht Jagd auf ihre Feinde. Und
        Bering, der "Vogelmensch", der Schmied von Moor: Er verlässt sein Haus,
        einen wuchernden
        Eisengarten, um zunächst Fahrer des Hundekönigs zu werden, dann aber
        dessen bewaffneter, zum Äußeren entschlossener Leibwächter. Doch in
        diesem zweiten Leben schlägt ihn
        ein Gebrechen, ein rätselhaftes Leiden am Auge, dessen Namen
        er in einem Lazarett erfahren soll: Morbus Kitahara, die allmähliche
        Verfinsterung des Blicks. (S. Fischer)
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"Der Fallmeister" 
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"Cox oder Der Lauf der Zeit" zur Rezension ...