Dieter Schickling: "Puccini"

Biografie


Persönlichkeit und Werk eines Revolutionärs der Oper

Puccini, seinerzeit in Italien als Verdis Nachfolger betrachtet und auch im Ausland immens erfolgreich, hat heute an Bedeutung wie auch an Ansehen bei vielen Kritikern und Musikwissenschaftlern eingebüßt. Trotzdem sind seine Opern beim Publikum nach wie vor große Erfolge, wenn sie so interpretiert werden, dass sie nicht zu gefühlsduseligem Kitsch geraten. Es ist zum Verständnis von Puccinis Opern hilfreich, sich mit dem Leben des Komponisten zu befassen.

Dieter Schickling schildert nach einer "Annäherung von außen", die sich mit Puccinis Heimatstadt Lucca, dem Italien seiner Zeit und seiner Familie befasst, zunächst die Kindheit, die Jugend und die Mailänder Studienjahre des jungen Luccaners, der nicht zuletzt aufgrund des frühen Todes seines Vaters keineswegs auf Rosen gebettet ist. Trotz guter Beziehungen fällt es dem begabten Nachwuchskomponisten lange Zeit schwer, einen Verleger zu finden. Schließlich gelingt es ihm, vom Traditionsverlag Ricordi "entdeckt" zu werden, der sein Hausverlag bleiben wird.

Anschließend wechseln sich Kapitel über die Lebens- und Schaffensphasen, aus denen je eine Oper resultierte, mit inhaltlichen und musikalischen Zusammenfassungen und Beurteilungen der jeweiligen Opern ab. Die Kapitel über die Opern tragen Überschriften, die bereits schlagwortartig und treffend die Werke charakterisieren und in das Gesamt-OEuvre des Komponisten einordnen. In ähnlicher Weise sind die biografischen Kapitel überschrieben. Aus diesen geht unter anderem hervor, wie sehr persönliche Schicksalsschläge, beispielsweise einige frühe Todesfälle im engsten Familienkreis, andererseits aber auch glückliche Episoden wie seine nicht gerade wenigen Affären, besonders fulminante Erfolge und Vergnügungen wie Jagd und Motorfahrzeuge Puccinis Schaffen beeinflussten, und wie schwer sich Librettisten mit dem sturköpfigen Komponisten taten. Puccinis Leben und Werk werden so in ihrer ganzen Dramatik transparent.

Im letzten Abschnitt "Heute - eine Entfernung" betrachtet Dieter Schickling den eingangs erwähnten Ansehensschwund Puccinis und die Schwierigkeiten, Puccinis Werke "richtig" aufzuführen.

Der Autor der vorliegenden Biografie hat jahrelang intensiv über Puccini geforscht und kann deshalb auch Quellen einfließen lassen, die in älteren Biografien fehlen, und einige etablierte Irrtümer richtig stellen, auch, was Puccinis für seine Komponistentätigkeit bedeutendes, ausgesprochen zwiespältiges Verhältnis zu Frauen betrifft. Dank der klaren Trennung zwischen der eigentlichen Biografie einerseits und den in den Kontext ihrer Entstehung eingefügten Kapiteln über die Opern selbst andererseits bleibt die Kontinuität des Lebenslaufs bewahrt, und trotzdem kann sich der Leser intensiv über Inhalt, musikalische Umsetzung und Qualität von Puccinis sehr unterschiedlichen Werken informieren. Der Autor beurteilt die einzelnen Opern Akt für Akt, oft Stück für Stück differenziert und fachkundig.

Trotz des beträchtlichen Umfangs (oder deswegen?) liest sich das Buch angenehm und kurzweilig, und das liegt nicht nur an Puccinis bewegtem Leben, auch wenn dieses durchaus selbst den Stoff für eine Oper böte: Dieter Schickling vermag Fakten und Interpretationen zwar sachlich, jedoch auch unterhaltsam zu präsentieren.

Das Buch enthält zahlreiche Fotografien und Abbildungen von Puccini, Menschen aus seinem Umfeld, seinen Fahrzeugen sowie Dokumenten. Als Anhang finden sich unter anderem ein chronologisches Verzeichnis von Puccinis privaten und beruflichen Reisen, Quellennachweise und Anmerkungen sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.

Aufgrund seiner überragenden Gründlichkeit, der enormen Rechercheleistung und der leser- und lesefreundlichen Umsetzung ist dieses Buch, das Persönlichkeit und Werk gleichermaßen gerecht wird, eine sehr informative und spannende Lektüre für Opernfreunde, insbesondere natürlich für die Puccini-Liebhaber unter ihnen.

(Regina Károlyi; 08/2007)


Dieter Schickling: "Puccini. Biografie"
Reclam, 2007. 456 Seiten.
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Dieter Schickling ist Mitglied des Forschungsinstitutes "Centro studi Giacomo Puccini" in Lucca und Mitherausgeber der geplanten kritischen Gesamtausgabe der Werk und Briefe Puccinis. Schickling ist darüber hinaus Herausgeber des Puccini-Werkkatalogs.

Noch zwei Buchtipps:

Helmut Krausser: "Die kleinen Gärten des Maestro Puccini"

Leben und Lieben eines großen Künstlers
Aus Liebe zu den Opern Giacomo Puccinis begann Helmut Krausser, dessen verborgene Lebensumstände zu erforschen. Mit den Ergebnissen seiner Recherchen schrieb er einen Roman, der zehn ereignisreiche Lebensjahre des Meisters in neuem Licht erscheinen lässt. Es gelang dem Autor nicht nur, die streng gehütete Identität der Puccini-Geliebten Corinna zu enthüllen, sondern - mit Hilfe neu aufgetauchter Dokumente - auch die tragischen Umstände, die zum Skandal um sein Hausmädchen Doria Manfredi führten. Entstanden ist dabei viel mehr als nur eine Chronique Scandaleuse.
Die Spannungsfelder zwischen Kunst und Erfolg, Liebe und Begierde, Neid und Intrige, Eifersucht und Hass, Revolte und Versagen liefern den Stoff zu einem oft bizarren Geflecht der Verstrickungen. Rund um die Person des heute populärs­ten Opernkomponisten entfaltet sich das spannende Panorama jener letzten Phase der Belle Epoque in einer neuen, überraschenden Perspektive. (DuMont Buchverlag)
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Michael Klonovsky: "Der Schmerz der Schönheit" zur Rezension ...
Über Giacomo Puccini. Musikalische Lava con passione disperata

Leseprobe

Um Verdis Nachfolge
1889 - 1893

Ein paar Abende nach der Uraufführung des Edgar diskutieren Puccini und Fontana fünf Stunden lang mit Giulio Ricordi, was nun weiter zu tun sei. Puccini schlägt Änderungen vor, tiefgreifende offenbar, denn der Verleger erklärt es sofort für unmöglich, solche Änderungen noch für die bis Ende Mai 1889 laufende Scala-Saison zu verwirklichen. Schließlich müssten dann ganz neue Stimmen geschrieben werden. Es wird beschlossen, Edgar im Mai nicht mehr zu geben, sondern für die Eröffnung der Winterspielzeit gründlich zu überarbeiten.
Eine Woche später fährt Puccini für ein paar Tage zur Erholung nach Cernobbio am südlichen Ende des Comer Sees. Fontana begleitet ihn und auch der Freund Carignani, der Anfertiger des Klavierauszugs, weil sie sofort mit den Änderungen des Edgar beginnen wollen. Von dort schreibt Puccini an Ricordi, er denke an Tosca, und der Verleger solle doch bitte bei Victorien Sardou, dem Autor des französischen Bühnenstücks, die Opernrechte erwerben. Noch ist die Edgar-Zukunft nicht kanalisiert, da hat bereits die Suche nach einem neuen Stoff begonnen. Der Hinweis auf Tosca kam von Fontana, und beide hatten schon im Februar ein Tosca-Gastspiel der Heroine Sarah Bernhardt in Mailand besucht und ein weiteres im März in Turin. Das Schauerdrama liegt auch durchaus auf der Edgar-Linie, sein kruder Sex-and-crime-Naturalismus passt ganz zu Fontanas und Puccinis Vorstellungen von einer effektvollen Oper. Aber es scheint, dass Ricordi damit überhaupt nicht einverstanden ist: Puccini wird die Tosca erst ein Jahrzehnt später komponieren dürfen.
Mitte Mai kehrt er nach Mailand zurück. Hier verhandelt er, offenbar durch Ricordis Vermittlung, erfolgreich mit Giuseppe Giacosa, einem der prominentesten Feuilletonisten und Bühnenautoren, über ein neues Libretto, das anscheinend in Russland spielt, das ihn aber bald nach dem Vertragsabschluss (das Buch soll bis November geliefert werden) schon wieder wenig überzeugt. Denn inzwischen hat Puccini sich einem neuen Sujet zugewandt, das ihn viel mehr reizt: Manon Lescaut nach der Erzählung des französischen Rokoko-Abbé Prévost; schon Jahre zuvor hatte Fontana ihn darauf aufmerksam gemacht. Bereits am 15. Juli schließt Ricordi einen Vertrag über das Manon-Libretto mit dem Theaterautor Marco Praga und dem Journalisten Domenico Oliva. Bevor sich Puccini jedoch damit und mit den daraus entstehenden Problemen des Giacosa-Vertrags beschäftigen kann, erwartet ihn eine ganz andere Aufgabe: Ricordi schickt ihn zu den Bayreuther Festspielen.
Vom Jahr zuvor kennt Puccini Bayreuth schon. Nun aber kann er sich nicht einfach nur an den Wagner-Aufführungen ergötzen, sondern muss sich besonders um die Meistersinger kümmern. Denn diese vom Stoff her "deutscheste" Oper Wagners soll im nächsten Winter zum ersten Mal in Italien aufgeführt werden, und Ricordi denkt, dass sie dafür einiger Änderungen bedarf, vor allem erheblicher Kürzungen, da einem italienischen Publikum ein so langes Stück nicht zuzumuten sei.
Der interessanteste Beleg für Puccinis Bayreuth-Aufenthalt Ende Juli 1889 ist ein Brief, den Giulio Ricordi an ihn geschickt hat und den wir nur aus Mareks englischer Übersetzung kennen. Der Text, der ironisch mit pseudo-deutschen Wortungetümen spielt ("Schinkennbruk", "Meistersingerschapfgrübeliwagnerelizt" u.a.) und den Ricordi als "Königlischerbuckdruckereistempelmaschinenstaupfeditor" unterschreibt, macht noch einmal den Sinn der Reise klar:

Tito [Ricordis Sohn] schreibt mir aus London, dass die Oper schön, aber furchtbar, entsetzlich lang ist!! Dass das Publikum interessiert ist, aber auch gelangweilt! Sie werden sehen, dass die Kürzungen, die in Wien gemacht wurden, tatsächlich zu wenig sind und nicht ausreichen; unser Publikum, wie wagnerianisch es auch sein mag, wird das nicht tolerieren. Deshalb müssen wir versuchen, die Oper schlank und wirkungsvoll zu machen.

Puccini dehnt seinen Aufenthalt nicht übermäßig aus und kehrt nach wenigen Tagen schon wieder zurück. Sicher hat er in Bayreuth die erste Meistersinger-Vorstellung dieses Jahres am 24. Juli gesehen, vielleicht auch schon den Tristan und sicher den Parsifal am 25. Juli. Denn er hat später geäußert, er habe Parsifal noch unter dem Uraufführungsdirigenten Hermann Levi gehört, und der hatte im Jahr zuvor nicht in Bayreuth dirigiert, wohl aber diesmal. Eine "glänzende Aufführung" nennt er das jetzt, "großartiger Eindruck".
In seinem nun schon gewohnten Sommerdomizil in Vacallo im schweizerischen Tessin wartet auf Puccini viel Arbeit. Neben den von Ricordi gewünschten Kürzungsvorschlägen für die Meistersinger sind die Villi erneut zu überarbeiten, "weil weitere Aufführungen bevorstehen, ebenso Edgar, dessen Klavierauszug veröffentlicht werden soll, und schließlich muss die neue Oper komponiert werden. Puccini ist - jedenfalls was seine Aufträge angeht - auf dem besten Erfolgsweg. Voller Neid beklagt sich der ältere lucchesische Kollege Catalani, dass er von Ricordi gegenüber Puccini zurückgesetzt werde: "Mich erschreckt der Gedanke, was meine Zukunft sein kann, jetzt, wo es nur noch einen einzigen Verleger gibt, und dieser Verleger will über niemand anderen reden hören als über Puccini [ ... ] Auch in der Kunst gibt es 'Dynastien', und ich weiß, dass Puccini der Nachfolger Verdis werden muss."
Puccinis ganzes Interesse gilt Manon Lescaut. Die neue Arbeit ist für die nächste Scala-Saison vorgesehen, drei Spielzeiten hintereinander stehe er also auf dem Programm des führenden italienischen Theaters, teilt er stolz seiner Schwester Tomaide mit. Nach Edgar 1889 und dessen für 1890 geplanter Reprise kann das nur bedeuten, dass Manon Lescaut für den Winter 1890/91 gedacht ist, Puccini also innerhalb eines Jahrs mit der Komposition fertig zu werden meint. Er täuscht sich darin (wie meistens) erheblich, und wie das Otello-Erlebnis die Fertigstellung des Edgar verzögerte, hat sicher die genauere Beschäftigung mit den Meistersingern Puccini Erkenntnisse gebracht, die die Entstehung der Manon-Komposition beträchtlich verlängerten, sie aber auch zu seinem ersten Meisterwerk werden ließen.
Zunächst jedoch beherrschen familiäre Probleme Puccinis erste Tage in Mailand. Michele hat sich zur Auswanderung nach Südamerika entschlossen, offensichtlich deprimiert über die Aussichten auf eine Karriere in der Heimat und nicht fähig zu jenem überwältigenden Selbstvertrauen, das seinem Bruder Giacomo über alle Enttäuschungen hinweghilft. Aber auch eine Auswanderung kostet Geld. Sehr wahrscheinlich um dieses Geld zu beschaffen, haben die Brüder um diese Zeit die ihnen seit dem Tod der Mutter gemeinsam gehörende Wohnung in der lucchesischen Via di Poggio verkauft. Der Käufer ist Raffaello Franceschini, der wohlhabende Schwager. Die Wohnung bleibt also in der Familie, und ihre Überschreibung ist gewiss nur eine Art Sicherheit für das von Franceschini gezahlte Geld - Puccini hat die Wohnung fast auf den Tag genau fünf Jahre später zurückgekauft.
Michele Puccini fährt Anfang Oktober 1889 nach Buenos Aires. Dort schlägt er sich mit privatem Unterricht durch und nimmt schließlich eine Stelle als Musiklehrer an einer Schule in Jujuy im äußersten Norden Argentiniens an, mitten in den Anden.
Giacomo hingegen hat sich mit seinen anstehenden guten Geschäftsaussichten zu befassen. Ende Oktober sind bereits die ersten drei Akte des Manon-Librettos fertig, und Anfang 1890 teilt Puccini dem Bruder im fernen Argentinien mit, dass er an dieser Oper arbeite und danach "den 'Buddha' machen" werde. Man pflegt allgemein daraus zu schließen, Puccini habe einen solchen indischen Stoff im Sinn gehabt; ich vermute jedoch, dass damit das alte Giacosa-Projekt gemeint ist, denn "Buddha" war der unter Freunden gängige Scherzname für Giacosa.
In diesen Tagen schreibt Puccini eine seiner wenigen Gelegenheitskompositionen: das Streichquartett mit dem Titel Crisantemi. Es ist dem Andenken des am 18. Januar 1890 gestorbenen Amedeo von Savoyen gewidmet, des zweiten Sohns König Vittorio Emanueles II. Puccini hat das Stück nach eigener Angabe in einer Nacht komponiert, und es wird unmittelbar danach mit großem Erfolg im Mailänder Konservatorium und in Brescia aufgeführt. Es ist durch die Aufnahme einiger Wendungen in Manon Lescaut nachträglich gleichsam geadelt worden. (...)

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