Prolog
Wien, 2. November 1780
»Die Gruft will mich nicht mehr hergeben.«

Sie will mit ihm reden? Sie redet mit einem Toten?« »Still! Sie sieht nicht mehr gut, aber ihre Ohren sind so scharf wie eh und je. Sie wird ungnädig, wenn man hinter ihrem Rücken tuschelt.«
Die beiden Damen in den pelzbesetzten Samtumhängen drängten sich, im Windschatten der Kutsche Schutz suchend, aneinander. Obwohl der Nachmittag erst begonnen hatte, hingen die grauen Wolken des Allerseelentages über dem Mehlmarkt, als ginge es bereits auf den Abend zu. Der scharfe Wind versprach neuerlichen Regen, er trieb Unrat und trockene Blätter vor sich her. Der Bezirk vor dem Kapuzinerkloster, normalerweise ein buntes Gewimmel aus Marktleuten, Geschrei und Leben, lag heute verlassen und kahl, so weit das Auge reichte. Das Kaiserreich gedachte seiner verstorbenen Seelen. Nur das leise Plätschern des Donner-Brunnens, dessen nackte Putten die Kaiserin, entrüstet über so viel Blöße, hatte entfernen lassen, mischte sich mit dem Schnauben des Pferdegespanns, dem Klirren und Klingeln des Zaumzeuges und dem Ächzen der Kutsche, die vor dem Eingang zum Kapuzinerkloster stand und in den Ledergurten ihrer Federung schwankte. Zwei kräftige junge Männer in der Uniform der kaiserlichen Garde halfen soeben respektvoll einer unförmigen Gestalt aus dem Wagen. Die Matrone, von den raschelnden Rocksäumen bis zur Witwenhaube in tiefstes Schwarz gekleidet, keuchte vor Anstrengung. Kaum auf eigenen Beinen stehend, klopfte sie indes gereizt mit einem schwarzen Stock, der ihr ebenso Gehhilfe wie Drohmittel zu sein schien, auf das Pflaster. Ohne die vereinzelten Gaffer zu beachten, die jetzt von ihrer Ankunft Notiz nahmen, wandte sie sich mit schroffer Stimme an ihre Begleiterinnen.
»Nun, was ist? Möchte vielleicht eine von Ihnen dafür sorgen, dass wir eingelassen werden, oder sollen wir hier Maulaffen feilhalten?«
»Selbstverständlich Majestät, sofort Majestät.«
Die Jüngere, die erst seit wenigen Tagen das Privileg genoss, der Kaiserin zu dienen, eilte so schnell zum Tor, dass sie fast mit einem Leibgardisten zusammengestoßen wäre. In der kurzen Zeit ihres Dienstes hatte sie bereits gelernt, dass es nicht ratsam war, Ihre Apostolische Majestät, Maria Theresia von Habsburg-Lothringen, Kaiserin-Witwe des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn und Böhmen, warten zu lassen. Das Tor öffnete sich, ehe der letzte, blecherne Ton des Glöckchens verklungen war. Ein Kapuzinerpater, die Hände fröstelnd in den Ärmeln seiner Kutte vergraben, senkte in feierlichem Respekt das Haupt und ließ die Gruppe mit einem gemurmelten Gruß eintreten. Auch die frommen Brüder hatten ihre Erfahrung mit der Ungeduld der hohen Frau gemacht. Mit einem dumpfen Laut schloss das Tor jedes weitere Geräusch von draußen ab. In der jähen Stille klangen das monotone Pochen des Stockes und die Schritte der Fürstin ungewohnt laut. Sie ging langsam, ihre Kraft sorgsam einteilend. »Warum tut sie sich das an?«, hauchte die junge Komtesse Starhemberg trotz der zuvor erhaltenen Warnung an das Ohr ihrer Begleiterin. Die Neugier siegte über ihre Befangenheit.
Ungeachtet der erlauchten Ahnenreihe, die ihr das begehrte Amt einer Hofdame verschafft hatte, besaß sie die vorwitzige Wissbegier einer Vorstadt-Wäscherin.
»Es ist Allerseelen, meine Liebe. Außerdem tröstet es sie, in seiner Gruft zu beten«, wisperte die Gräfin Bräuner leise zurück.
»Vielleicht stellt sie sich auch vor, dass er sie in seinem Sarg hört.«
Die Komtesse riss in affektiertem Schreck die Augen auf.
»Was soll eine Leiche schon hören? Noch dazu eine, die man aufgeschnitten und in den verschiedensten Kirchen beigesetzt hat. Das Herz liegt in der Augustinerkirche, die Eingeweide im Stephansdom. Schlecht könnte es einem werden, wenn man daran denkt, was sie aus einem toten Kaiser machen. Ihr wird einmal das Gleiche blühen.«
Die Gräfin zuckte mit den Achseln und schwieg.
Mittlerweile hatte man jenen Aufzug erreicht, der es der 63-jährigen Herrscherin ermöglichte, die kaiserliche Gruft zu betreten, ohne die enge ausgetretene Steintreppe benutzen zu müssen. Die simple Balkenkonstruktion aus einem Flaschenzug und einem gepolsterten Lehnstuhl sah wenig Vertrauen erweckend aus. Gemeinsam mit der kleinen Starhemberg half sie der Kaiserin dennoch, sich in diesem Stuhl niederzulassen, und nahm den Gehstock entgegen, der nicht mehr gebraucht wurde.
»Nun lass’ Sie schon das Gezupfe«, beschwerte sich die Monarchin ungnädig über den Versuch der nervösen Komtesse, auch noch die Brokatröcke des kaiserlichen Witwengewandes in gefällige Falten zu legen, damit alles seine Ordnung hatte. »Allez, meine Herren, an die Arbeit!«
Letzteres galt den Gardisten, die sich an der Konstruktion zu schaffen machten, während der kaiserliche Obersthofmeister, Graf Paar, mit eigener Hand die Gurte festzurrte, die die Fürstin in ihrem Aufzugstuhl fixierten. Dann gab er den Männern an den Seilen ein Zeichen. Das Konstrukt hob sich schwankend und wurde vorsichtig mit Hilfe eines drehbaren Balkens über die große Öffnung in der Kuppelwölbung platziert, ehe es sich langsam in die vom Fackellicht erhellte Tiefe senkte.
Die Komtesse suchte einstweilen in dem starren Antlitz unter der Witwenhaube nach einer Spur von Furcht, einem Zeichen von Leben, einem Hauch von Gefühl, das verriet, was die Kaiserin bei diesem haarsträubenden Abstieg empfand. Allein, sie entdeckte nicht einmal Hinweise auf die vergangene Schönheit, von der so viele Gemälde in der Hofburg und in Schönbrunn kündeten. Dies waren die Züge einer verdrießlichen, fülligen Witwe, mit fleischigen Wangen und tief eingegrabenen Furchen auf der Stirn und in den Mundwinkeln. Die Augen lagen trüb, gerötet und klein zwischen all den Falten. Sie zeugten von zu wenig Schlaf und zu vielen Stunden Arbeit bei Kerzenlicht. Die schlaffe, fahle Haut erzählte von Krankheit und Müdigkeit. Für einen Herzschlag sah die Kaiserin auf und entdeckte den prüfenden Blick. Es kam der jungen Hofdame vor, als könne sie jeden despektierlichen Gedanken hinter ihrer Stirn lesen. Abergläubisch bekreuzigte sie sich.
»Sie braucht nicht um mich zu fürchten.« Die Kaiserin hielt die fromme Geste für Sorge, und ihre befehlsgewohnte Stimme wurde leiser, je tiefer sie nach unten sank. »Ich befinde mich bei meinen lieben Toten in bester Gesellschaft.«
Bestürzt bekreuzigte sich die Hofdame ein zweites Mal. Sie trat von der Öffnung im Gewölbe zurück, als fürchte sie, mit nach unten gezogen zu werden. »Gütiger Himmel, ich …«
»Still, kleine Närrin«, fiel ihr die Gräfin ins Wort, ehe sie weitersprechen konnte. »Es steht uns nicht an, die Handlungen der hohen Frau zu mess …«
Ein scharfer, peitschenartiger Knall, ein dumpfer Aufschrei und ein fürchterliches Krachen unterbrachen auch sie.
»Meiner Treu, was war das?«
»Das Seil ist gerissen!« Graf Paar stürzte besorgt nach vorne, streckte den Kopf in die Öffnung. »Majestät! Um Gottes willen, Majestät?«
Die Gräfin indessen packte die Komtesse am Arm und zerrte sie augenblicklich zur Treppe. »Schnell, wir müssen nach der Kaiserin sehen!«
Der jungen Hofdame blieb kaum Zeit zur Furcht. Im Zwielicht der fürstlichen Grabgewölbe, das nur etwas weiter vorne in der neuen kaiserlichen Gruft von Fackeln erhellt wurde, stolperte sie über die unebenen Steinquadrate vergangener Jahrhunderte hinter ihrer Gefährtin her. Der Lehnstuhl mit der reglosen Monarchin stand glücklicherweise unversehrt genau vor dem Doppelsarkophag, in dem der verstorbene Kaiser auf den Tag wartete, da man seine Gemahlin neben ihn legen würde.
Ein dumpfes Stöhnen drang durch die Stille. Im letzten Moment unterdrückte die Komtesse einen hysterischen Aufschrei, weil ihr klar wurde, dass der Laut von ihrer Herrscherin kam, und nicht aus einem der Särge.
»Was ist geschehen?«, hörte sie die Kaiserin verwirrt fragen und die Gräfin Bräuner besänftigend antworten:
»Das Seil scheint gerissen, Majestät. Sie sind mitsamt dem Stuhl in die Tiefe gestürzt, haben Sie sich verletzt?«
»Ich bin unsanft gelandet und arg durchgeschüttelt«, schnaufte die Fürstin, prüfte bedächtig ihre Gliedmaßen und rückte die verrutschte Haube zurecht. »Aber ich glaub, es ist alles da, wo es hingehört.«
»Majestät? Kaiserliche Hoheit? Um Himmels willen, welch ein Unglück! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll?« Graf Paar eilte mit fliegenden Rockschößen herbei.
»Dann seien Sie still und belästigen Sie den Himmel nicht mit Dummheiten«, entgegnete die Kaiserin unwirsch. Sie hatte ihren Schock bereits überwunden und wieder zu ihrer gewohnten Autorität zurückgefunden. »Muss man einen solchen Jahrmarkt um ein gerissenes Seil machen? Lassen Sie mich bitte mit meinem Gemahl allein. In der Zeit können sich die Herren da oben ja darum kümmern, die Konstruktion wieder in Stand zu setzen.«
»Aber das dauert, Majestät. Die Winde ist ebenfalls gebrochen …«
»Nun, besser die Winde als mein Hals. Man könnte fast den Eindruck bekommen, die Gruft will mich nicht mehr hergeben. «
»Majestät belieben zu scherzen«, entsetzte sich der Obersthofmeister indigniert. »Freilich kann es sehr wohl ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, das neue Material herbeizuschaffen.«
»Dann beginne Er endlich damit. Es ficht mich nicht an, hier zu warten. Ich bin von Toten umgeben, die ich liebe und die mich geliebt haben. Ich wünsche mit ihnen allein zu bleiben.«
Die beiden Hofdamen wechselten einen fragenden Blick, welcher der Kaiserin prompt auffiel. »Das gilt auch für Sie, meine Damen.«
Es hätte der auffordernden Handbewegung des Obersthofmeisters gar nicht mehr bedurft. Keine von ihnen legte Wert darauf, ihrer Herrin bei diesem unheimlichen Besuch Gesellschaft zu leisten. Sie zogen sich so hastig zurück, dass es fast einer Flucht gleichkam. Die lackierten Holzabsätze ihrer modisch bestickten Pantoffeln klapperten eilig über die schmale Treppe, die für ihre schwerfällige Monarchin inzwischen ein unüberwindliches Hindernis darstellte. Krank an Leib und Seele musste die kaiserliche Witwe seit geraumer Zeit sogar auf die Hilfe von Sänften und Aufzügen zurückgreifen, wenn sie ihre Räume im zweiten Stock der Hofburg verlassen wollte. Um ihr auch dort das Stiegensteigen zu ersparen, führte eine Rampe vom Vorplatz der Hofburg auf die Krone des Burgwalls hinauf. Auf ihr erreichte die kaiserliche Kutsche die Bellaria, einen hohen Vorbau an der Westseite des Leopoldinischen Trakts, sodass Maria Theresia genau vor ihren Appartements im zweiten Stock aussteigen konnte. Auf diese Weise erreichte sie ebenerdig ihre grau ausgeschlagenen Gemächer, die sie nach dem Tode des Kaisers in dieser Etage bezogen hatte.
»Sie warten am besten hier, damit Sie Ihrer Majestät zu Hilfe eilen können, wenn es nötig ist«, wies Graf Paar die beiden Damen an, die sich vergeblich nach einer Bank oder einem Stuhl im Gewölbegang umsahen. Während die Gräfin Bräuner die Unbequemlichkeit stumm hinnahm und sich gegen die gekalkte Wand lehnte, seufzte die Komtesse Starhemberg bedrückt auf und schlang trotz ihres warmen Umhangs fröstelnd die Arme um den Oberkörper. Es war kalt, unbequem und viel zu still in diesem Vorraum zum Tod. Sie mühte sich vergeblich, ihre Furcht zu überwinden.
So hatte sie sich das glanzvolle Leben einer kaiserlichen Hofdame wahrhaftig nicht vorgestellt. (...)


(aus "Maria Theresia. Zwischen Thron und Liebe" von Gabriele Marie Cristen)

Roman. Als Maria Theresia im November 1780 stirbt, findet man in ihrem Nachlass eine erstaunliche Liste. Zu lesen ist, dass ihr glücklicher Ehestand mit dem Kaiser 29 Jahre gedauert habe - »macht also Monat' 335, Wochen 1540, Tage 10781, Stunden 258774«. Ihr Leben nach seinem Tod war fünfzehn Jahre lang von der Sehnsucht getragen, wieder mit ihm vereint zu sein ...
Gabriele Marie Cristen zeichnet in ihrer Romanbiographie der großen Habsburgerin nicht nur ein pralles Gemälde der Zeit, sondern vor allem das sehr private Bild einer turbulenten Regentenfamilie. Sie lässt Maria Theresia wenige Tage vor ihrem Tod von den großen Ereignissen der zurückliegenden Jahrzehnte erzählen - von erster Verliebtheit, von 16 Kindern, vom Regieren, Verhandeln, Kriegführen und Reformieren. Und von einer arrangierten Ehe, die doch zum Glück ihres Lebens wurde.
Gabriele Marie Cristen ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin, deren Romane und Jugendbücher in viele Sprachen übersetzt wurden. In ihren Romanbiographien hält sie sich streng an die historischen Tatsachen, nimmt sich aber die schriftstellerische Freiheit, Gedanken und Gefühle nachzuempfinden, vielleicht sogar anders zu interpretieren, als es die historische Wissenschaft tut.
Die Autorin lebt mit ihrer Familie in einem beschaulichen Dorf in der Nähe von München und ist seit dreißig Jahren glücklich mit ihrem Mann verheiratet. (Droemer Knaur)
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