Leseprobe:

   Mein Vater war nicht im Krieg. Und gehörte nicht der deutschen Minderheit an. Er gehörte zu keiner Minderheit. Er war, wie er stolz betonte, ein Hundertprozentiger. Aber wer kann schon hundertprozentig sein in einer Gegend, wo ungarische Mitbewohner Nemeth und rumänische Ungureanu heißen. Wo Rumänen magyarisiert und Ungarn romanisiert sind. Wo Deutsche. Und so weiter. (...)

Vater war nicht frivol. Eines Tages musste ich feststellen, dass er mehrere Gesichter hatte und außerhalb des Hauses eines trug, das mir unbekannt war.
   Ich sollte Vater von der Arbeit abholen. Mutter wollte es so. Damit er endlich auch mal bei uns wäre. Zu Hause. Immer wieder hörte ich Mutter sagen: Wann nimmst du dir Zeit und kümmerst dich um uns. (...)

Mein Vater ist ein Pflichtmensch. Sogar das Leben selbst ist eine Pflicht. Jetzt ist er über 70 und übt gewissenhaft weiter. Er übt, ein noch besserer Mensch zu werden. Schließlich muss es wenigstens einer in der Familie tun. Meine Mutter hatte es schon längst aufgegeben. (...)

   Vater war der sechste Sohn von sieben Kindern. Über seine Familie erzählte er herzlich wenig. Die Mutter starb kurz nach der Geburt der Schwester. Die Familie lebte in einem Einzimmerhaus mit Lehmboden. Sie hatten etwas Land und Tiere. (...)

Als Vater Mutter heiratete, war sie Jungfrau. Mit ärztlichem Attest. Vater wollte es so. Damals konnte er noch nicht mit Messer und Gabel umgehen. Dafür konnte er lesen und schreiben und hatte die erste Parteischule hinter sich. Das verlieh ihm Gewicht. Machte ihn zu einer begehrten Partie. Denn welches Mädchen hätte nicht gerne einen Mann von heute geheiratet. Besonders, wenn es dadurch der Deportation entging. Wenn er beim Essen auch noch so viel schmatzte. (...)

   Vater hätte sich gern scheiden lassen. Aber die Partei erlaubte es nicht. (...)

Er ist nicht mehr gegen Gott. Früher meinte er, es gäbe keinen Gott. Heutzutage meint Vater, es gäbe Platz genug in der Welt. Auch für Gott. Und er könnte damit leben, wenn es denn einen Gott gäbe.
   Vater ist nicht gegen Gott. Aber er ist gegen Jesus. Denn der, meint Vater, ist einer so wie wir. Oder Marx. Aber viel schlauer. Er hat nur gepredigt. Und nicht einmal ein Werk hinterlassen. (...)

Mein Vater hat keine Laster, und das hat mir schon immer angst gemacht. Er hatte eine unerbittliche Art, zu verlangen, exemplarisch zu sein. Ich sitze im Zug und denke an meinen Vater. Der Winter ist noch nicht vorbei. Ich habe Angst. Ich bin verspannt. Lass los, lass los. Egal wie viele Fehler. Lass los. (...)

Vater am Bahnhof. Der Zug mit seinen Geräuschen in meinem Magen. Wir steigen aus. Mein Sohn passt auf die Koffer auf. Ich suche Vater. Ich hoffe, dass er gekommen ist. Und, dass er nicht gekommen ist. Er ist da. Er hofft, dass wir nicht gekommen sind. Wir sind auch da. Vater ist jünger als vor sieben Jahren. Ich weiß nicht, ob Vater mir verziehen hat. (...)


Aus dem Roman "Vaterflucht" von Carmen-Francesca Banciu.
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