Monika Lamers: "Wintersturm"
Fährgeld
          für eine neue Rolle
        
        Am Anfang steht das Bild des Todes: Mitten im Winter verspürt
        der männliche Ich-Erzähler "einen
          metallischen Geschmack auf der Zunge, der auf absonderliche Weise mit
          dem Sturm zu tun hat." Er weiß nicht, was ihn da
        verunsichert, aber der Leser sieht: Es ist die Münze
        für Charon, der uns über den Totenfluss bringt. Was
        die Überfahrt bedeutet, bleibt zunächst unklar. Hades
        oder Paradies ... Dass das mythische Bild Lebensverwandlung bedeutet
        und mit schmerzlicher Lösung von lastenden Gewichten und
        Befreiung von inneren Fesseln zu tun hat, lässt sich bald
        ahnen.
        
        Die Geschichte, die hier nicht streng chronologisch, sondern
        rückschauend, reflektierend und erkenntnisbestrebt
        erzählt wird, handelt von der leidenschaftlichen Liebe eines
        Jungen zu seinem Lehrer. Als Wilhelm 14 Jahre alt ist, wird Johannes
        Naxos sein neuer Deutschlehrer, der ihn nicht nur mit Nietzsche
        begeistert, sondern auch körperlich anzieht. Naxos erwidert
        die Gefühle seines Schülers behutsam, geht aber am
        Ende des Schuljahrs an ein anderes Gymnasium, um Wilhelm und sich vor
        Weiterungen zu schützen. Mit 28, im fünften
        Jahrsiebt, schreibt Wilhelm das erste seiner 9 x 7 "Naxos-Gedichte", in
        denen er Bilder für seine Gefühle und Motive findet.
        Solche Reflexionen stehen in einem heimlichen Zusammenhang mit dem Wort
        Nietzsches: "Alle große Liebe ist noch
          über all ihrem Mitleiden: denn sie will das Geliebte noch -
          schaffen!" (S. 45) und mit Max Frischs Mahnung:
        "Du sollst dir kein Bildnis machen! ... Eben darin besteht ja
          die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in der
          Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem
          Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir
          wissen, daß jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie
          verwandelt fühlt, wie entfaltet, und daß auch dem
          Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange
          Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es
          aus
          jeglichem Bildnis ..."
        
        In der Unterprima wird Naxos erneut Wilhelms Deutschlehrer. Beide
        führen intensive Gespräche über
          Nietzsche.
        Im letzten Schuljahr verlässt Naxos überraschend
        wieder die Schule, um sich ganz seinen Nietzsche-Studien zu widmen.
        Nach dem Abitur studiert Wilhelm Philosophie.
        Als er in Sils-Maria
        seine Gedichte schreibt, wohnt er in jenem Haus, in dem Nietzsche
        gewohnt hat, und findet in einem alten Gästebuch Naxos'
        Schriftzüge. Erst kurz vor seinem Tod erfährt Naxos
        von Wilhelms Gedichten. Seine Schwester gab sie ihm jedoch nicht zum
        Lesen, um ihn nach einer Herzoperation vor seelischer
        Überforderung zu bewahren. Naxos stirbt. Da sich Wilhelm auch
        von seinen Eltern gelöst hat, wird er nun frei für
        eine echte Lebensbilanzierung, die er als Ich-Erzähler
        leistet, und für eine neue Rolle in einem selbst gestalteten
        Leben. Das deutet der Satz Max Frischs an: "Jedes Ich, das
          erzählt, ist eine Rolle." Er steht als Motto
        unmittelbar vor der Erzählung.
        
        Es ist eine platonische Liebe, die jede körperliche Liebe an
        Intensität des inneren Erlebens weit übersteigt. Sie
        erinnert an Hans Castorp, der im "Zauberberg"-Kapitel "Walpurgisnacht"
        den höchsten Grad seiner Liebe zu Madame Chauchat erreicht,
        ohne sie zu berühren. Die "Wintersturm"-Novelle konjugiert in
        fein differenzierter Erzählweise Attribute und Phasen einer
        homoerotischen Beziehung, aber im Unterschied zum "Zauberberg" macht
        der Held eine Entwicklung durch. Hans Castorp bleibt stehen, sieben
        Jahre lang dauert sein Erkenntnisstreben im Sanatorium, die im
        "Schnee"-Kapitel gewonnene Erkenntnis erlischt schon nach dem Erwachen
        am nächsten Morgen, zum Schluss fällt der tumbe
        Eskapist, der sich in seine eigene Leere zurückzieht; er
        findet auf dem Schlachtfeld sein ungewolltes Refugium in selbst
        verschuldeter Einsamkeit.
        
        Monika Lamers' Held ist der Zahlenmagie in anderer Weise unterworfen.
        Das "Siebenjahresspiel" erinnert an den Gestaltpsychologen Ernst
        Kretschmer, der Goethes
        Leben in Jahrsiebte einteilte. Wilhelm, der
        sich mit 14 in Dr. Naxos verliebt, durchlebt 6 mal 7 Jahre bis zu
        seinem Erwachen, das ihn aus dem Sturm einer letztlich leer gebliebenen
        Liebe in ein tätiges Leben herausführt. Er wird
        fähig, sich selbst und das Leben zu lieben, indem er - nun
        selbst in der Rolle des geliebten Lehrers - seine gesellschaftliche
        Rolle begreift: Er hat seine Eltern und sein geliebtes Vorbild
        überwunden und wird nun endlich frei, sich für Andere
        einzusetzen. Wilhelm wird nicht die problematische Liebe seines Lehrers
        wiederholen, sondern ist nun bereit, eine vollkommene Liebe seelisch
        und körperlich zu gestalten.
        "Der aber hat die größte Liebe, der sein
          Leben gibt für seine Freunde." (S. 64) Das waren
        Jesu Worte, die der wahnsinnige Nietzsche vor seinem Tod auf seinen
        letzten Zettel schrieb, und es war auch das Letzte, das Naxos schrieb,
        bevor er an Herzversagen starb. Wilhelm kann Naxos' Worte wie eine
        Botschaft lesen, die er als Auftrag für seine Zukunft begreift.
        
        Siehst du die Zeichen?
          Nimmst du die Zeichen wahr?
          Erkennst du die Zeichen?
          Sie mehren sich.
          Die Zeichen mehren sich!
          Du bist umgeben von Zeichen.
          Von Zeichen umzingelt.
          Dass du sie nicht erkennen willst,
          auch dies
          nimm zum Zeichen!
        
        Unser Leben ist eine Überfahrt über unsere eigenen
        Zeichen-Styxe - wir selber sind Charon. Wilhelm hat seinen Weg
        gefunden, der metallische Geschmack auf der Zunge ist verschwunden: "Es
muss
          mir also doch besser gehen, oder?" (S. 79)
        
        Die Struktur der Entwicklungsnovelle ist filigran: Es ist die
        reflektierte Erinnerung eines Mannes im mittleren Alter, der seine
        traumatisch erfahrene Liebe zu bewältigen versucht. Dabei
        kommt es immer wieder zu Vorgriffen. Das erzeugt eine gewisse Spannung
        und macht zugleich den Prozess des Erinnerns sowie die Suche nach der
        Selbsterkenntnis authentisch. Zusammengehalten wird der erinnerte und
        im Schreiben fortdauernde Prozess der Individuation durch metaphorische
        und motivische Vernetzung - etwa das Charon-Bild oder das alle
        Systematik ironisierende Siebenjahresspiel (hier verrät die
        Erzählerin auch ihr ludisches Temperament ...), die
        kommentierende und metaphorische Natur (der Sturm der Leidenschaft; die
        Pappeln als Wilhelms Inneres) oder die zitierten Gedanken Nietzsches,
        dessen bewusst unsystematische Philosophie auch Grundlage des
        Erzählens ist.
        Denn Systematik verbiegt oft die Wahrheit und entwertet sehr leicht die
        Bedeutung der scheinbar kleinsten Dinge. Ja, das Leben selbst kommt uns
        manchmal wie eine unverständliche Kette von Metaphern vor, wir
        sehen uns als Bild in einem größeren Bild, und wir
        haben als Subjekt die unüberwindliche Schwierigkeit, uns als
        Objekte zu sehen, wir können nur in ganz kleinen Schritten aus
        unserer Gefühlswelt hinausgelangen, um eine Perspektive
        einzunehmen, die uns die schonungslose Sicht auf uns selbst gibt - das
        ist der Weg der Selbsterkenntnis, der immer schmerzhaft ist. So
        führt auch der Weg des Trauernden, der von seiner
        Vergangenheit Abschied nimmt, zu neuen Wunden, um tiefere alte Wunden
        zu heilen. Es gibt keinen anderen Weg, sich in einer sich stets
        verändernden Wirklichkeit zu finden und zu behaupten.
        
        Im Fall dieser Geschichte, die an Herz und Verstand des Lesers
        rührt und seine Lebenserfahrung herausfordert, muss der Held
        bitter erkennen, dass der Sturm in seinem Herzen nicht wärmte,
        sondern rauer Winter war. Die Liebe, die im Kopf so heiß war,
        blieb kalt und leer - weil sie nicht in einem mit dem Geliebten
        geführten Leben in gegenseitiger Hilfe und Lebensgestaltung
        ausagiert werden konnte. Übrig bleibt das Philosophieren, das
        zur Selbsterkenntnis beitrug. Übrig bleiben die Gedichte, die
        Wilhelm schrieb; und sie bilden innerhalb der Erzählung, in
        die sie hineingestreut sind, eine eigene ästhetische Struktur
        und sind verbale Seismografen seiner Gefühle und Gedanken.
        
        Die Novelle nimmt ein glückliches Ende, Wilhelm ist von seiner
        Obsession geheilt, er ist nun zu einer neuen Liebe bereit, in der er
        sich an ein geliebtes Du hingibt. Aber eine eherne Tatsache des Lebens
        bleibt schmerzhaft bestehen, auch wenn der "Sturm überstanden"
        ist: "Das Gebirge der Einsamkeit", wie Nietzsche
        sagt (S. 21). Dieses Wort zieht sich durch die gesamte
        Erzählung und relativiert das Glück der vollkommenen
        Liebe. "Sehnsucht ist die Fortbewegungsart der Trauer ..."
        (S. 87), schreibt Wilhelm, und die Vereinsamung ist "jene
          eine, unheilbare Krankheit." (S. 103)
        
        "In Wahrheit sind wir immer allein" (S. 46), erkennt
        Wilhelm früh; später wiederholt er den Satz nur
        leicht verändert im Trennungsbrief an seine Eltern (S. 60). Es
        ist ein wichtiges Ergebnis in Monika Lamers' lebensphilosophischer
        Erzählung. Eine harte Aussage. Aber die Philosophie kommt
        nicht ohne Trost daher. Zum Schluss der Geschichte, deren offener
        Ausgang schon ein wenig Trost bietet, heißt es, nachdem
        Wilhelm erkennt, dass er den Sturm überstanden hat (alle
        folgenden Zitate entstammen S. 112):
        "Dieser Sturm soll doch nicht meinen, ich durchschaute ihn
          nicht! Durchschaue nicht, dass er sich dort oben im Wald nur
          versteckt."
        
        Indem wir das, was uns bedrängt und ängstigt,
        durchschauen, verlieren wir die Angst, weil das Fremde als Frage in uns
        selbst Gestalt annimmt. Und wir können uns dort ins Bild
        retten, wo wir die Natur unseres Lebens nicht verstehen. Das ist die
        Poesie, mit der Wilhelm seinen Erkenntnisprozess vorantrieb, seine
        Gedichte. Die poetischen Bilder sind keine starren Bilder, vor denen
        Max
          Frisch mit Recht warnt, sondern offene Thesen, 
        Denkmöglichkeiten, die uns die Tür zum Unverstehbaren
        einen Spalt öffnen. Da sehen wir in der Ferne einen Schein,
        eine Ahnung, wie in Kafkas
Parabel
          vom Türhüter. Und
        noch einen Trost gibt es: 
          "Der Drang der Liebe ist, das eigene Ich, diesen Innenraum, zu
          verlassen ... Diese Sucht, sich zu entgrenzen, das ist es, ... weil
          sie
          uns einen winzigen Sprung über die Grenze"
        gewährt. Noch ein letzter Trost:
        "Und auch der Schlaf entlässt uns aus uns selbst."
        
        Fazit:
        Ein großartiges Buch! Der Rezensent las es mit Freude an der
        Sprache, an Satzmelodie und an der Komposition von Handlung und
        Subtext. Karl Krolow sagte über Monika Lamers' "Wintersturm",
        was der Rezensent genau wie er erlebte: "Ich habe dieses ernste (und
        lyrisch empfindliche) Stück Dasein, das sich gleichsam selber
        erzählt, von Moment zu Moment, und doch entschieden, ja,
        'drängend' gelesen."
(Ulrich Bergmann; 11/2011)
Monika
          Lamers: "Wintersturm"
        Free Pen Verlag, 2011. 122 Seiten.
        
          Buch
              bei amazon.de bestellen