Mario Lacruz: "Auf Abendwegen"


Ein bewegender Familienroman des berühmten katalanischen Verlegers Mario Lacruz

Dieser ursprünglich 1955 in Spanien erschienene Roman von Mario Lacruz (1929-2000) wurde in der Übersetzung von Ulrich Kunzmann rechtzeitig zum Schwerpunktthema der Frankfurter Buchmesse 2007 zum ersten Mal dem deutschsprachigen Publikum präsentiert. Einem größeren internationalen Publikum wurde der Romanstoff schon vor vielen Jahren bekannt, als ihn Claude Lelouch als Vorlage seines mit zwei "Oscars" ausgezeichneten Films "Un homme et une femme" (mit Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant) verwendete.

Als der Roman 2001, ein Jahr nach dem Tod Mario Lacruz', der wegen seiner umfangreichen und segensreichen Verlegertätigkeit als der "spanische Siegfried Unseld" galt, wiederaufgelegt wurde, erfuhr er große Beachtung und wurde mit dem "Premio Ciudad de Barcelona" ausgezeichnet.
"Auf Abendwegen" ist nicht nur eine mit großer poetischer Ausdruckskraft erzählte Liebesgeschichte, sondern, sich über den gleichen Zeitraum von fast vier Jahrzehnten hinziehend, ein eindrucksvolles Porträt der katalanischen Gesellschaft in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

Während der Erzähler die Geschichte von David René erzählt, dem gebildeten Sohn einer relativ wohlhabenden Unternehmerfamilie aus dem katalanischen Küstenstädtchen Figueras, schließt dieser in der Ich-Form jeweils an und geht in seinen Erinnerungen zurück bis in seine Kindheit, wo seine tragische Liebesgeschichte mit Clementina Reynals, der gleichaltrigen Tochter der Nachbarn der Renes, beginnt.

1935, das Jahr, in dem der Roman spielt, ist schon geprägt von großen innenpolitischen Auseinandersetzungen in Spanien mit gelegentlichen Straßenkämpfen, häufigen Streiks und einer extrem aufgeladenen öffentlichen Diskussion. An David René, der in Barcelona im Haus seiner Familie lebt, ausgestattet mit einer ausreichenden Apanage, schon jahrelang an einem großen Gedichtzyklus schafft und sporadisch in einem Verlag mitarbeitet, gehen diese politischen und gesellschaftlichen Zustände mehr oder weniger vorbei. Ganz im Gegensatz zu seinem Freund Claudio, einem Bruder Clementinas, den David seit Kindertagen kennt und der als kritischer Journalist viel reist und sich auch schon einmal in der Vor-Bürgerkriegszeit um Kopf und Kragen schreibt.

David hat Clementina auch nach seinem Weggang aus Figueras nicht vergessen. Es ist ihm nie gelungen, ihr seine Liebe zu gestehen. Als sie mit seinem geliebten und verehrten Bruder Agustin eine Beziehung hat, schmerzt das David zwar, aber er freut sich auch für seinen Bruder. Der verunglückt 1929 tödlich mit dem Auto; es bleibt unklar, ob es nicht doch, unter dem Vorwand der Fahrlässigkeit und hohen Risikos, ein wohl geplanter Selbstmord war.

David vermisst Agustin sehr. Große Teile seiner langen Erinnerungsrückblicke sind der Geschichte seines Bruders und seiner Beziehung zu ihm gewidmet. Nachdem Agustin tot ist, gerät die Korkfabrik der Renés mit den Jahren langsam ins finanzielle Schlingern. Davids Schwester drängt ihn im Auftrag der Familie, nach Figueras zurückzukehren und in der Firma mitzuarbeiten, um sie wieder in sicheres ökonomisches Fahrwasser zu bringen.

Zurück in seinem Heimatort nähert sich David Clementina wieder an, und sie planen, miteinander fortzugehen und in ihrem Alter von 35 noch einmal zu beginnen. Am Grenzbahnhof in Port-Bou wollen sie sich treffen - am Vorabend des Ausbruchs des Spanischen Bürgerkriegs. Doch es kommt anders ...

Dieser Roman schildert nicht nur mit großer Kraft und Leidenschaft die Situation der Mittelklasse in Katalonien in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und ihre Indifferenz der sich dauernd verschärfenden politischen Lage in Spanien und dem restlichen Europa gegenüber, sondern malt auch ein Porträt Barcelonas und des kleinen Städtchens Figueras, dessen Reiz man sich nicht entziehen kann, auch wenn man nie dort gewesen ist.

(Winfried Stanzick; 10/2007)


Mario Lacruz: "Auf Abendwegen"
(Originaltitel "La tarde")
Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann.
Atrium Verlag, 2007. 288 Seiten.
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