John Cornwell: "Forschen für den Führer"

Deutsche Naturwissenschaftler und der Zweite Weltkrieg


Naturwissenschaft im Dienst skrupelloser Machthaber

Der Erste Weltkrieg verlief überwiegend nach klassischen Mustern, er war ein Krieg von Angesicht zu Angesicht, Mann gegen Mann, in mancher Hinsicht ein Relikt des 19. Jahrhunderts. Im Zweiten Weltkrieg hingegen spielte die Technik eine entscheidende Rolle. Er wurde zugunsten der Alliierten entschieden, weil diese die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zunächst noch allen Nationen zugänglich waren, schneller und geschickter umzusetzen wussten.

John Cornwells umfassendes Buch thematisiert zwar vor allem die Rolle der Forscher und Wissenschaftler des Dritten Reichs für den Krieg und die anderen Nazi-Gräuel, doch er ordnet jene zwölf Jahre in den historischen Zusammenhang ein und vollzieht vor allem die Geschichte der Naturwissenschaften in den deutschsprachigen Ländern seit dem 19. Jahrhundert nach, weil diese Entwicklung erheblichen Einfluss auf den Verlauf der Weltgeschichte nehmen sollte.

War das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der Chemie gewesen, die von den Deutschen effektiv vermarktet wurde und diesen zu einer wirtschaftlichen Macht verhalf, die das restliche Europa irritierte, so wurde das 20. Jahrhundert von der Physik geprägt. Der Autor beschreibt deren Werdegang seit der revolutionären "Erfindung" der Quantentheorie Ende des 19. Jahrhunderts, aber auch Chemiker mit fatalem Einfluss, etwa Fritz Haber und sein Giftgas, finden, wie der gesamte Erste Weltkrieg, angemessene Erwähnung. Trotz der internationalen Ächtung nach dem Krieg blieb Deutschland eine Forschernation: Während der Weimarer Republik machten deutschsprachige Physiker wie Heisenberg und Schrödinger bahnbrechende Entdeckungen und fanden weltweit Anerkennung. In dieser Zeit erlangten aber auch seltsame Pseudowissenschaften wie Geopolitik und Eugenik Bedeutung, die von den Nazis alsbald vereinnahmt wurden. Als Hitler an die Macht kam, entließ er massenhaft jüdische und anderweitig missliebige Forscher. Viele emigrierten und halfen später den Alliierten bei ihrem Kampf. Diejenigen, die blieben, wurden überwiegend zu Mitläufern, wie Heisenberg, von Weizsäcker und Wernher von Braun. Widerstand in Forscherkreisen war selten; vor allem fällt hier Max von Laue auf. Ein wesentliches Thema Cornwells ist natürlich der Wettlauf um die Entwicklung der Atombombe, falls man dies wirklich so bezeichnen kann, waren doch die Deutschen bei Kriegsende aus vielerlei Gründen weit von einem funktionierenden Reaktor entfernt. Der Autor greift aber auch die Raketentechnik, das Radar und die Codierungstechnik, die entscheidend zum Kriegsverlauf beitrugen, die Gräuel der Nazi-Mediziner (Zwangssterilisation, Euthanasie, sinnlos-grausame Menschenversuche, Massenvernichtungstechniken), die unrühmliche Geschichte der IG Farben und alle weiteren Wissenschaftszweige auf und untersucht ihre Rolle und Bedeutung im Dritten Reich.

Cornell verfolgt die Verflechtung von Naturwissenschaft und Politik auch nach dem Krieg weiter bis ins 21. Jahrhundert hinein, denn sowohl der Kalte Krieg als auch die Globalisierung und der Krieg gegen den Terror haben den Wissenschaftlern eine neue Verantwortung auferlegt, deren sich diese oftmals gar nicht bewusst sind, oder die sie verdrängen.

An diesem Buch fällt vor allem auf, wie objektiv der britische Autor an das schwierige Thema herangeht - gründlicher als viele deutsche Historiker versucht er, die deutsche Katastrophe anhand der historischen Entwicklung zu begründen und die bedeutenden Charaktere der deutschen bzw. deutschsprachigen Forschergemeinschaft aus unterschiedlichsten Blickwinkeln zu beleuchten. Gerade an der Figur Heisenberg scheiden sich die Geister: War er ein Held des passiven Widerstands, ein Nazi oder ein billiger, opportunistischer Mitläufer? Cornwell möchte jenen Geistesgrößen gerecht werden und zieht möglichst aussagekräftige Quellen heran. Er zeigt die Nazi-Gräuel und die hinter ihnen stehende Technik und Forschung unerbittlich auf, hinterfragt aber gleichzeitig das Manhattan-Projekt, auch dies selbstverständlich anhand gut ausgewählter, repräsentativer Quellen.

Dass sich dieser Autor gegenüber vielen Nachkriegsentwicklungen skeptisch bis ablehnend zeigt, dürfte klar sein. Das Buch ist ein Plädoyer an die Verantwortung und Zivilcourage des einzelnen Forschers, dem heute mehr Möglichkeiten offen stehen als dem Physiker Rotblat, der sich einen Maulkorb verpassen lassen musste, als er 1945 aus dem Manhattan-Projekt ausstieg, weil er es angesichts der offenkundigen Unfähigkeit der Deutschen zur Herstellung einer Atombombe für obsolet hielt. Dennoch zeigt der Autor Verständnis für die verzweifelten Bemühungen der heutigen Forscher, die nur durch Aufmerksamkeit erregende Veröffentlichungen an Gelder für ihre Projekte kommen. Die Naturwissenschaften, darunter zunehmend die Biologie, werden weiterhin das Potenzial haben, der Menschheit sowohl zum Segen als auch zum Fluch zu gereichen, recht unabhängig davon, ob wir in einer Demokratie oder einer Diktatur leben.

Das Buch ist bei aller Genauigkeit und Sachlichkeit spannend verfasst und setzt keine Vorkenntnisse voraus, sodass sich auch Laien nicht vom beachtlichen Umfang und vom Thema (das uns ohnehin alle angeht) abschrecken lassen sollten. Zahlreiche Fotos präsentieren die bedeutendsten Persönlichkeiten und technischen Errungenschaften aus der dargestellten Epoche. Ein gründliches Literatur- und Stichwortverzeichnis ergänzen hilfreich den Text.

John Cornwells Buch erweitert das Verständnis der Vorgänge in Deutschland und der gesamten Welt während des 20. Jahrhunderts und ist auch wegen der hervorragenden Umsetzung unbedingt zu empfehlen.

(Regina Károlyi; 05/2006)


John Cornwell: "Forschen für den Führer"
Übersetzt von Andrea Kamphuis.
Lübbe.
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John Cornwell, Jahrgang 1940, eroberte mit "Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat" die internationalen Verkaufsranglisten und wurde für seine Arbeit als Historiker und Schriftsteller mehrfach ausgezeichnet.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat"

Kein anderer Papst des 20. Jahrhunderts ist so rätselhaft wie Pius XII. Er führte das Papsttum auf eine seit dem Mittelalter nicht mehr erreichte Höhe der Macht und des moralischen Ansehens, doch innerhalb der Kirche bekämpfte er unerbittlich jeden Widerspruch. Er lehnte Hitler und den Nationalsozialismus ab, doch zur Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden schwieg der Stellvertreter Christi auf Erden. Warum er dies tat, ist bis heute umstritten. John Cornwell schildert in seiner Biografie Leben und Pontifikat des Mannes, der lebte wie ein Heiliger und herrschte wie ein Diktator. Während sich Europa auf den Zweiten Weltkrieg zubewegt, wird im März 1939 in Rom ein neuer Papst gewählt. Die Wahl des Konklaves fällt auf Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli. Der Kardinal, der von nun an den Namen Pius XII. tragen wird, kann auf eine glänzende Karriere als Kirchenmann zurückblicken: 1899, mit 23 Jahren, zum Priester geweiht, erhält er 1901 seinen ersten Posten im Vatikan. 1917 wird er Bischof, kurz darauf Nuntius in München und dann in Berlin. 1929 wird er zum Kardinal ernannt, 1930 als Staatssekretär ranghöchster Diplomat des Vatikans. Das Konkordat mit dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933 trägt die Handschrift des künftigen Papstes. Es hilft zwar bei der Sicherung der Kirchenorganisation, verschafft aber dem NS-Regime wertvolle innen- und außenpolitische Anerkennung. Während des Zweiten Weltkriegs steuert Pius XII. einen Kurs strikter Neutralität, den er auch dann noch beibehält, als sich die Niederlage der Achsenmächte bereits abzeichnet. Er vermeidet eine klare Verurteilung der Judenverfolgung, über deren Ausmaß er nachweislich unterrichtet ist. Selbst die Deportation der römischen Juden in die Vernichtungslager nimmt er ohne Widerspruch hin. 
"Eugenio Pacelli war kein Ungeheuer; sein Fall ist sehr viel komplexer und tragischer. Was seine Geschichte interessant macht, ist die fatale Kombination von hohen spirituellen Zielen und einem wachsenden Verlangen nach Macht und Kontrolle. Pius’ Biografie ist kein Porträt des Bösen, sondern die Geschichte einer folgenschweren moralischen Verirrung - eines Strebens nach uneingeschränkter Autorität, das in Widerspruch zur christlichen Nächstenliebe gerät. Die Konsequenz dieses Bruchs ist das Einvernehmen mit der Tyrannei und - letztlich - mit der Gewalt." Aus dem Vorwort von John Cornwell. (C.H. Beck)
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