Lukas Maisel: "Buch der geträumten Inseln"
"Er wusste wohl, dass
Scheitern möglich war, ans Aufgeben aber glaubte er nicht. Mit leeren
Händen heimzukehren, war keine Möglichkeit. Er würde das Wesen finden
oder bei der Suche zugrunde gehen." (S. 129)
Eine Männerabenteuergeschichte mit klarträumender Professorin!
Dieser Debütroman ist ein seltener Glücksfall, eine wahre
Ausnahmeerscheinung im allzuoft auf veröffentlichte Einheitsmeinungen
abgestimmten Literaturbetrieb, der mittels warum auch immer
gerngesehener lesermanipulativer Pflichtelemente den Weg zu
Belletristikpreisverleihungen innerhalb des solcherart immer
einheitsbreiiger werdenden selbstbestätigenden Systems vorzeichnet.
Doch nein, keine achsozeitgemäße Beziehungsgeschichte, keine
mitleidheischende Sozialmorastwanderung steht hier und jetzt auf dem
Programm! Denn der 1987 geborene Autor Lukas Maisel hat mit seinem
famosen Erzählstil die Geschichte einer kuriosen Expedition geradezu
alchemistisch in ein Lektüreerlebnis verwandelt, das den Leser von der
ersten bis zur letzten Seite fesselt und schwungvolle Unterhaltung mit
Niveau bietet.
Eingeleitet wird das faszinierende "Buch der geträumten Inseln" vom
"Vorwort des Autors"; ein hübscher Kunstgriff, der das Verschwinden des
(erfundenen) Forschungsreisenden Robert Akeret im uns allen
wohlbekannten tendenziösen Zerrspiegel diverser Zeitungsmeldungen
abbildet, das aufflammende Interesse des Autors am Verschollenen sowie
anschließende Recherchen und seine Herangehensweise erläutert: "Ich
habe darauf verzichtet, dieser Geschichte den Anschein zu geben, sie
beruhe bis ins Kleinste auf wahren Begebenheiten. Man könnte sagen:
Ich habe faktische Anhaltspunkte miteinander verbunden." (S. 9,
10)
Offenkundig ausgestattet mit detailverliebter Beobachtungsgabe, einer
Extraportion Menschenkenntnis und kreativer Fantasie hat Lukas Maisel
seine Protagonisten erschaffen, die in abwechslungsreichen Szenerien
auftreten und ihre höchstpersönlichen Gedankenwelten in inneren
Monologen allein vor sich selbst (und somit dem Leser) ausbreiten, was
eine interessante Zusammenschau hinsichtlich jeweiliger Herkunft,
Familiengeschichte und prägender Lebenssituationen ergibt.
Die vier so unterschiedlichen Expeditionsteilnehmer, die das Schicksal
auf einem Boot mit Käfig zusammengeführt hat, sind: Der wichtigtuerische
Assistent Blum, der vielleicht Geheimsprachen entdecken will, selbst
jedoch über keinerlei passende Vorkenntnisse verfügt (und das ist nicht
sein einziges Defizit, dankenswerterweise bleiben seine allfälligen,
gewiss einfältigen, inneren Monologe dem Leser jedoch erspart), der
bekehrte Steuermann Jonah, vormals als Pirat Samuel bekannt, mit
deutschsprachiger Großmutter, die in ihrer Kindheit vorübergehend als
Kuriosität nach Deutschland verschleppt wurde und dort in einer
Völkerschau auftreten musste, Mansur, der überqualifizierte Mann für
alles, aufgrund der unerwiderten Liebe zu seiner Zwillingsschwester auf
der Flucht, und natürlich der Schweizer Robert Akeret, Drucker und
nunmehriger selbsternannter Kryptozoologe.
Selbstverständlich hat jeder der Vier seine ganz eigene Art, mit
unerwarteten, auch lebensgefährlichen Situationen umzugehen, und nicht
jeder plötzlich zum Abenteurer Gewordene wächst mit der Herausforderung.
Über den Ethnologiestudenten
und peinlich praxisfeigen Zeitgeistmoralapostel Blum sinniert Akeret an
einer Stelle: "Wie einfach es war, dachte Akeret, seinen Willen zu
bekommen, wenn man den Leuten nur vorwarf, das zu sein, was sie am
innigsten verabscheuten." (S. 145)
Der von Kindesbeinen an verhaltensoriginelle Akeret (z.B. führt er eine
allmorgendliche Kotschau durch, sehr zum Gaudium der Mitreisenden) hat
aus verschiedenen Gründen seine liebe Not im Umgang mit Menschen,
beispielsweise sticht er in einem Nobelhotel einer Prostituierten, ob
Frau oder Roboter, bleibt unklar, mit einem Finger in ein Auge (in
Erfüllung eines langgehegten Wunschs), auch konnte er als Kind keine
Gefühlsregungen der Mitmenschen in deren Gesichtern erkennen und
betätigte sich einmal im Zorn als regelrechter Spiegelstürmer. Somit ist
trefflich für allerlei überraschende Konfrontationen und Situationskomik
gesorgt.
Der nicht uneitle Dilettant Akeret will einem von ihm erst noch zu
entdeckenden Mischwesen seinen Namen geben und begibt sich daher sowohl
in eigener Mission als auch im Auftrag der exzentrischen Professorin Dr.
Unland (im Vorwort als "Kontaktperson, die anonym bleiben möchte"
bezeichnet, und daher unter geändertem Namen präsent), die in ihrem
privaten Kellerarchiv die
Federn
und Bälge unzähliger seltener Vogelarten hortet und sich
Paradiesvögel für ihre Sammlung wünscht, auf große Fahrt.
Diese Frau Dr. Elisabeth Unland steht ab Seite 214 im Mittelpunkt des
Geschehens. Akeret ist womöglich irgendwo bei Papua Neuguinea
verschollen, weshalb sie in der Schweiz aussichtslose Nachforschungen
anstellt und von der Mutter des Abgängigen Informationen erhält, die gar
manches schlagartig in einem anderen Licht erscheinen lassen (können).
Und sie taucht mit dem "Buch der geträumten Städte", das sie in Akerets
Zimmer in der Wohnung seiner Eltern vorfindet, in Akerets Welt ein, zu
der sie in ihren plastisch geschilderten Träumen mithilfe spezieller
Techniken allem Anschein nach Zugang findet. Daraus ergeben sich
bewegende (geradezu magische) Überlappungen und Einsichten, mehr soll an
dieser Stelle jedoch nicht verraten werden.
Das "Buch der geträumten Inseln" ist ein wunderbarer Roman, dessen nicht
genug zu lobende Fabulierlust, Lebensklugheit und Sprachgewandtheit
anhaltend beeindrucken; ein gar nicht so kleines Wunder im Jahr 2020!
Nicht zuletzt tragen auch die stimmigen Illustrationen des Schweizer
Künstlers Rafael Koller das Ihre zum ausgezeichneten Gesamteindruck bei.
(kre; 09/2020)
Lukas Maisel: "Buch der geträumten Inseln"
Rowohlt, 2020. 272 Seiten.
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Lukas Maisel, geboren 1987 in
Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in
Biel studierte. Für das Manuskript seines ersten Romans, "Buch der
geträumten Inseln",
erhielt er im Jahr 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019
den "Förderpreis des Kantons Solothurn". Er lebt in Olten.
Zur Netzpräsenz des Autors:
https://www.lukasmaisel.com/