Marion Poschmann: "Die Kieferninseln"
Auf
der Suche nach dem Ort für einen würdevollen
Selbstmord
Marion Poschmanns Roman "Die Kieferninseln" stand im Herbst 2017 auf
der Auswahlliste des "Deutschen Buchpreises". Gewonnen hat ihn dieser
kurzweilige, amüsante und verschrobene Roman leider nicht, was
allerdings eher an der starken Konkurrenz und am Geschmack der Jury
gelegen haben muss, als an der literarischen Qualität dieses
immer wieder überraschenden Textes.
Die 1969 geborene Schriftstellerin, die in ihren Romanen immer wieder
unvorhersehbare Wege beschreitet, in ihrem "Schwarzweißroman"
führt sie ihre Protagonisten ins kalte Magnitogorsk im Ural,
in ihrer "Hundenovelle" ist es eine facettenreiche Begegnung mit einem
Streuner, entführt den Leser diesmal nach Japan. Und dort auf
eine Reise, die, so skurril sie auch sein mag, in jeder Hinsicht
erstaunlich ist.
"Er hatte geträumt, daß seine Frau ihn
betrog. Gilbert Silvester wachte auf und war außer sich."
Gilbert Silvester, derzeit mehr aus Not als auf Wunsch mit der
Bartforschung beschäftigt, träumt zu Beginn des
Romans, seine Frau würde ihn betrügen. Dieser Traum
ist so realistisch, dass er seine Welt in Stücke
reißt. Es fehlt ihm jeder Hinweis auf diesen Betrug, das
einzige Indiz ist der Traum selbst. Daraufhin fährt er zum
Flughafen und kauft sich ein Flugticket, übernachtet, mehr
schlecht als recht, im Terminal zwischen zwei Metallstühle
gelagert, er will nur weg, egal wohin, mit der nächsten
Maschine weit weg. Das zufällige Reiseziel also Japan. Kein
Reiseziel übrigens, wo es einen Bartforscher
hinführen sollte.
"In Kaffeeländern lagen die Dinge offen zutage. In
Teeländern spielte sich alles unter einem Schleier der Mystik
ab."
In Tokio trifft er ebenso zufällig, wie er ebenda gelandet
ist, einen japanischen Studenten, Yosa Tamagotchi (ob der Nachname
zufällig gewählt ist, weiß wahrscheinlich
nur die Autorin), der sich aus Prüfungsangst umbringen will.
Die Tatsache, dass Yosa einen spärlichen Ziegenbart
trägt, macht ihn für Gilbert Silvester noch
interessanter. Das führt dazu, dass Silvester den jungen Mann
nun mit allen Mitteln vom Suizid abhalten will.
Ein wirklich gelungener Ausgangspunkt also für diesen Roman.
Und die Erwartungen, die man zu diesem Zeitpunkt bereits hat, werden
von Marion Poschmann nur übertroffen. Wenn man zwischen den
Zeilen lesen will und von Literatur mehr erwartet als eine klug
strukturierte Spannungsgeschichte.
Er überredet also den jungen Japaner, der bewusst klischeehaft
sehr devot gezeichnet ist, dazu, seinen Suizid doch an einem
möglichst würdevollen Ort zu vollziehen. Die beiden
Männer brechen zu einer Art Pilgerreise auf. Im
Gepäck haben sie als Leitfaden für diesen Weg zwei
Bücher. Eines ist "Das vollständige
Selbstmordhandbuch", das die Empfehlungen für die beliebtesten
Selbstmordorte in ganz Japan gesammelt hat. Inklusive Angaben zu
Wetter, der Wahrscheinlichkeit, ungewollt entdeckt zu werden, und den
Hinweisen auf möglichst pittoreske letzte Aussichten beim
finalen Akt. Dazu noch Bashos
zumindest in Japan beliebtes und
bekanntes Reisebuch "Auf schmalen Pfaden ins Hinterland", dessen Wege
die beiden Männer nun auf der Suche nach dem idealen Ort
nachgehen. Den Selbstmordwald von Aokigahara überstehen sie
unversehrt, der Fuji will sich leider nicht zeigen, und die
Kirschblüte kann, bedingt durch die falsche Jahreszeit, auch
nicht zur Untermalung des Vorhabens herhalten.
Seiner Frau, die ihm natürlich nicht glaubt, dass er irgendwo in
Japan herumirrt, berichtet er andauernd nüchtern
von
ausgewählten Ereignissen. Quasi wie durch einen Filter.
Rasant und furios lässt Poschmann die beiden Protagonisten,
die beide eigentlich keine unbedingten Sympathieträger sind,
sympathisch die vermeintliche Unvereinbarkeit der Kulturen aufzeigen
und führt den trotz des bedauerlichen Vorhabens
vergnügten Leser mit sicherer Hand durch dieses Buch, das im
weiteren Verlauf immer stärker wird.
Die Interessen beider treffen sich letztendlich in der Bucht von
Matsushima, die sicherlich zu den schönsten Orten der Welt
gehört. In der Bucht verstreut liegen die berühmten
Kieferninseln (Matsushima bedeutet übersetzt ins Deutsche auch
Kieferninsel). In solcher Umgebung ist ein Suizid
doch gleich viel auf-
und anregender als beispielsweise auf den unpoetischen Gleisen irgendwo
in der japanischen Hauptstadt.
Zu diesem Zeitpunkt geistert es allerdings schon ordentlich in dem
Roman. Und irgendwie kommt auch der junge Japaner abhanden. Es
passieren schräge Dinge, welche die Vermutung
stärken, dass hier vielleicht alles doch ganz anders ist als
es scheint. Ja sogar, dass hier bisher auch alles anders war. Nur, was
war, wenn nicht das, was vermeintlich gewesen ist?
Falls man das Buch auf eine Frage reduzieren möchte,
könnte man vielleicht die Frage stellen, was denn nun wirklich
an der Wirklichkeit sei. Erfreulicherweise ist "Die Kieferninseln" viel
mehr. Ein wirklich überzeugend geschriebener Roman, der
erfrischend eigenständig ist, nüchtern, skurril,
träumerisch, poetisch - und der am Ende dazu
verführt, gleich noch einmal zum alles in die Wege leitenden
Traum zurückzublättern und die Reise noch einmal
anzutreten.
(Roland Freisitzer; 11/2017)
Marion
Poschmann: "Die Kieferninseln"
Suhrkamp, 2017. 168 Seiten.
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