Anna Kim: "Die große Heimkehr"


Literarische Aufarbeitung eines wunden Punktes der südkoreanischen Geschichte

Bereits mit ihrem frühen, noch im Droschl Literaturverlag erschienenen Roman "Die gefrorene Zeit", der sich mit dem Kosovokrieg der frühen neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts beschäftigte, hat Anna Kim aufgezeigt. Fein ausgearbeitete Sprache, gepaart mit dem Wunsch, wunde Punkte anzusprechen, zu sezieren und gleichzeitig in eine wirklich spannende literarische Erzählung einfließen zu lassen.
Während in "Die gefrorene Zeit" noch ein paar kleinere Abstimmungsprobleme eine wahrscheinlich breitere Aufmerksamkeit verhindert haben, legte Anna Kim anno 2012 bereits bei Suhrkamp mit "Anatomie einer Nacht" einen in jeder Hinsicht großartigen, beeindruckenden Roman vor, den der Rezensent selbst jetzt noch als einen literarischen Höhepunkt des Jahres 2012 in Erinnerung hat. Ein kollektiver Selbstmord in einem kleinen Dorf in Grönland war hier der Ausgangspunkt für eine atmosphärisch dichte literarische Wundinspektion, die unzählige Lebensgeschichten im Mittelpunkt stehen hatte. Die damals gehegte Hoffnung, Anna Kim würde einen auch im Umfang großen Roman folgen lassen, hat sich nun mit dem Erscheinen ihres neuesten Romans "Die große Heimkehr" erfüllt, der sich über 554 Seiten erstreckt.

Ohne an Dichte und Intensität einzubüßen, hat die Prosa Anna Kims nun einen weiteren, sehr erfreulichen Bestandteil dazugewonnen. Neu ist ein frei und großflächig dahinströmender Erzählfluss, der den Leser durch die vielen Seiten treibt, so dass man sich, je näher man dem Ende kommt, eigentlich fast darüber ärgern möchte, dass dieser Roman der in Südkorea geborenen und in Deutschland und Österreich aufgewachsenen Schriftstellerin nicht viel länger geworden ist.

Eine komplexe Dreiecksgeschichte zwischen einer Frau und zwei Männern zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Text, der nicht nur eine leidenschaftliche, wenngleich erfreulich schmalzlose Liebesgeschichte ist, sondern auch ein spannender Spionageroman, der sich teilweise wie eine moderne Version von Eric Ambler liest. Die politisch brisanten und unruhigen Jahre nach dem Korea-Krieg (1950-1953), der nur wenige Jahre nach dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft über Korea stattgefunden hat, bis hin zu den früher sechziger Jahren bilden den Hintergrund zu dieser Geschichte, die ihre Protagonisten in einen Strudel reißt, dem sie nicht entkommen können.

Hanna, die als Kind von einem deutschen Ehepaar adoptiert worden ist, reist auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern nach Seoul, wo sie den alten Yunho kennenlernt. Die beiden treffen sich regelmäßig, und Yunho bittet Hanna, ihm einen Brief zu übersetzen, der ihn über das Ableben einer Eve Lewis in einem Altersheim in den Vereinigten Staaten informiert, was dazu führt, dass Yunho Hanna die Geschichte seines Lebens erzählt.

Und so erfährt Hanna von Yunhos Jugend mit Johnny (eigentlich Mino Kim), mit dem er in Nonsan aufgewachsen ist, und von seiner Liebe zu Eve Moon (oder auch Lewis), die er in Seoul kennengelernt hat. Sie erfährt, wie die damaligen politischen Ereignisse, wie zum Beispiel die Aprilrevolution 1960, die dazu geführt hat, dass dem von den Amerikanern installierten Präsidenten Rhee nur der Rücktritt bleibt, das Leben der drei Freunde beeinflusst hat. Mino, der eher zufällig und nicht aus politischer Überzeugung Mitglied der paramilitärischen Nord-West-Jugend wird, die für eine Wiedervereinigung des seit dem Zweiten Weltkrieg gespaltenen Landes gekämpft hat. Das zusammen mit einer teilweise korrupten Polizei, die wiederum im Visier der us-amerikanischen Besatzungsmacht war. Durch die Freundschaft zu Mino gerät auch Yunho in Bedrängnis, was dazu führt, dass Johnny, Yunho und Eve nach Osaka flüchten müssen, wo sich bereits eine große koreanische Diaspora befindet.

Dieser fast politische Krimi ist gespickt mit den Liebesbeziehungen, die Eve jeweils zu Johnny und Mino hat. Dass Eve eine wirklich Schwäche für GIs hat, macht die Sache natürlich nicht einfacher. Eve ist dabei für Johnny und Yunho so ungreifbar, dass sie fast irreal wirkt. Wirklich ausgezeichnet, wie Anna Kim diese Figur gelungen ist. Auch Johnny und Yunho sind ihr überzeugend geglückt, selbst wenn hie und da das eine oder andere wahrscheinlich bewusst gesetzte Klischee aufschimmert.

Nicht nur Beiwerk, sondern wesentlicher Teil des Romans sind die Schicksale der vielen Menschen, die den drei Hauptprotagonisten begegnen. Denn was wäre die Geschichte per se, wäre sie nicht durch die Schicksale der Menschen, die sie beeinflusst hat, geprägt? Diese viele Schicksale zeichnen ein teilweise verstörendes, aber immer packendes Zeit- und Gesellschaftsbild, dem man berauscht folgt. Da gibt es den jungen Mann, dessen Eltern ihn in die Psychiatrie einliefern lassen, wo man bei ihm eine Lobotomie durchführt. Einzig und allein deshalb, weil er sich mit einer US-Amerikanerin verlobt hat. Anna Kim erzählt von einer im patriarchalischen Korea aufmüpfigen Ehefrau, die ihren Mann, koste es, was es wolle, verlässt, um nach Europa zu fliehen. Sie erzählt von Zwangsarbeit und Verschleppung und einer in Osaka tätigen Schuldirektorin, die ihren Schülerinnen das Propagandamaterial Nordkoreas wie ein Sakrileg vermittelt und sich bemüht, sie dazu zu bringen, nach Pjönjang auszureisen. Sie erzählt auch von der nur zögerlich beginnenden Gleichberechtigung von Frauen, die natürlich noch immer nicht wirklich erreicht ist.

"Die große Heimkehr" - der Titel des Romans bezieht sich auf ein Projekt Nordkoreas, das junge Nord- und Südkoreaner, die in Japan ein neues Zuhause gefunden hatten, dazu bewegen sollte, nach Pjönjang zu kommen, um am Aufbau der Demokratischen Republik beteiligt zu sein -, ist eine spannende Chronik der bewegenden Geschichte Koreas im zwanzigsten Jahrhundert und ein wirklich beeindruckend überzeugend erzählter Roman, den man gar nicht mehr aus der Hand legen möchte. Es ist ein Roman, der den Leser auch fordert, ihn zwingt, sich viel zu erarbeiten. Es ist ebenso ein Roman, der den Leser mit einer wirklich spannenden, aufregenden und aufwühlenden Reise belohnt, die noch lange nach den letzten Seiten nachhallt.

Auch wenn ein Literaturpreis nur wenig über den literarischen Wert eines Buches aussagt, hofft der Rezensent, dass Anna Kims "Die große Heimkehr" nicht nur für den "Deutschen Buchpreis" nominiert wird, sondern auch ganz oben landet. Einfach schon deshalb, weil der Roman so die Aufmerksamkeit vieler Leser, die ihn sonst womöglich übersehen könnten, wecken würde.

(Roland Freisitzer; 02/2017)


Anna Kim: "Die große Heimkehr"
Suhrkamp, 2017. 554 Seiten.
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