John Wray: "Das Geheimnis der verlorenen Zeit"
Gefangen
in einer Blase angehaltener Zeit
Ausgangspunkt für John Wrays überbordenden, riesigen
und das ganze zwanzigste Jahrhundert umfassenden Roman "Das Geheimnis
der verlorenen Zeit" ist Waldemar Tollivers Feststellung, dass er,
eingeschlossen in einer Blase angehaltener Zeit, aus dem Fluss der Zeit
ausgeschlossen ist. Die Welt dreht sich ohne ihn weiter. Er ist allein
und ohne Aussicht auf irgendeine Art von Rettung.
Eine spannende Idee zu einer absurden Reise in die eigene Vergangenheit
und folglich auch durch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts,
auf die John Wray den Leser mit irrsinnig viel Witz und ungebremster
Erzählfantasie mitnimmt. Über siebenhundert spannende
Seiten lang.
"'Sie brauchen mehr Informationen, natürlich. Das ist
nur recht.' Er lächelte auf sie herab. 'Ich habe etwas
über die Zeit herausgefunden, verstehen Sie? Nämlich,
dass sie sich in Kreisen bewegt. Nicht auf gerade Bahn, sondern in
Kreisen - in Sphären, um genau zu sein. Das geschieht
überall, Fräulein. Überall um uns herum.
Selbst jetzt.' Er hockte sich vor sie. 'Nur kontrollieren kann ich sie
noch nicht, das ist alles.'"
Es ist auch ein Spiel mit Realität und Wahn, bei dem sich die
Grenzen immer wieder so verschieben, dass man die
Doppelbödigkeit zu erkennen meint, bevor einem der gefundene
Boden wieder jäh unter den Füßen
weggerissen wird.
Der 1971 in Washington, D.C. geborene John Wray, Sohn eines
US-Amerikaners und einer Kärntnerin, der bisher mit dem Roman
"Retter der Welt" aufgefallen ist, wagt hier viel, riskiert auf voller
Länge und gewinnt letztendlich. Zumindest jene Leser, die
bereit sind, sich mit ihm auf diese Reise zu begeben. Einfach macht er
es niemandem, weil er schon allein die vielen unterschiedlichen
Erzählstränge, Schichten, Zeitebenen real und fiktiv,
erfunden und geträumt, bewusst ineinandergreifen
lässt, sodass man stets gefordert ist.
Bereits Waldemars Urgroßvater Ottokar Gottfriedens Toula (aus
dem nach der Emigration in die USA dann Tolliver wird) ist im Jahr 1903
angeblich dem Geheimnis der Zeit
auf die Spur gekommen. Kurz darauf von einem nahezu bewegungslosen Auto
umgefahren und getötet, sind seine Aufzeichnungen und
Unterlagen verschwunden. Einen Teil dieser Unterlagen finden seine
Söhne Waldemar und Kaspar. Die nachfolgenden Generationen sind
mit der Suche nach ihnen beschäftigt. Auch Waldemar, der in
der chaotischen Wohnung seiner Tanten im zeitlosen Raum gefangen ist.
"Die nächsten gut zwanzig Jahre, während
derer die Welt mit Pomp und Getöse ins Pissoir fiel, waren die
glücklichsten in Kaspar Toulas Leben."
Waldemar schreibt in diesem Zustand Briefe an eine Mrs. Haven, in die
er verliebt zu sein scheint. Wie genau diese Beziehung, falls es
überhaupt einen Grund dafür gibt, sie als solche zu
bezeichnen, aussieht, wird auch mit Fortdauer der immer erratischeren
Briefe eigentlich nicht überzeugend klar. Dies ebenfalls
Absicht des Autors, der den Leser hier wunderbar in immer absurdere
Richtungen irreleitet.
"Gegen Ende seiner Tage hielt mein Vater 'The Excuse'
für sein bestes Werk; und es war zweifellos ein Meilenstein:
sein erster veröffentlichter Roman, aber auch sein letzter
Versuch, die Grenzen des Anstands zu wahren."
Waldemars Vater, Orson Tolliver, ein mittelmäßiger Science
Fiction-Autor, dessen Romane und Erzählungen als
"Sternepornos" bezeichnet werden, feiert seinen
größten Erfolg damit, dass seine Ideen zur
Gründung einer kuriosen Sekte führen. Wie sich im
Lauf der Erzählung herausstellt, ist Mrs. Haven die Ehefrau
des Sektengründers, der auch auf der Suche nach dem Geheimnis
der verlorenen Zeit ist.
Das Personal dieses fantasievollen Romans ist durchgehend interessant.
Alle Familienmitglieder scheinen zumindest etwas verrückt zu
sein, was John Wray auch mit ebenso verrückten Namen und Ideen
fördert. Die Söhne des Urgroßvaters gehen
im Zug des nationalsozialistischen Deutschlands dann getrennte Wege,
Kaspar wird Nazi, Waldemar flieht mit Familie in die USA. Seine Frau
stirbt unterwegs auf dem Schiff. Die beiden Töchter (die auch
die Chaos-Tanten sind und die pittoresken Namen Gentian und Enzian
tragen) kommen mit dem Großvater wohlbehalten an. Die eine
Linie geht also in Nordamerika weiter, die andere in Europa mit Kaspar.
Virtuos verwebt John Wray jene Ereignisse, die das blutige
zwanzigste
Jahrhundert geprägt haben, mit einer wirklich
unterhaltsamen Familiengeschichte, die von Znojmo, der Wiener
Jahrhundertwende, über den Holocaust bis hin zu einer sehr
ironischen Variante des us-amerikanischen Traums, zur Entfaltung kommt.
"Kann ich Dir etwas gestehen, Mrs. Haven? Ich bin mir nicht
mehr sicher, wer Mrs. Haven ist. Je näher ich der
entscheidenden Stelle in unserer Geschichte komme, desto undeutlicher
sehe ich Dich vor mir. Selbst während unserer intimsten
Augenblicke schien Dein Name - der Name, den Du von Deinem Mann
angenommen hast - wie eine Tarnung, eine Art Schutzschirm für
Dein wahres, pre-Haven-Ich zu fungieren. Ich frage mich, ob es mir je
gelungen ist, einen Blick dahinter zu werfen. Was, wenn ich es recht
bedenke, die Frage aufkommen lässt, für wen ich dies
eigentlich niederschreibe."
So viel, wie man in "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" findet, kann in
einer Besprechung dieses Romans nicht einmal annähernd
angedeutet werden, zu verwirrend wäre der Versuch, an dieser
Stelle mehr über das Geschehen zu schreiben. Was diesen
wuchernden Text so spannend macht, sind John Wrays einfach
hinreißend überzeugende Fantasie und sein
Sprachwitz, der einen immer wieder erheitert, selbst in trüben
Momenten, und jene Spannung, die von Anfang bis zum Schluss eigentlich
nie nachlässt. Dass man am Ende bei der Überlegung,
wie viele der Fragen, welche die Tollivers so lange gequält
haben, denn nun eigentlich beantwortet wurden, schulterzuckend
feststellt, dass man eigentlich nicht schlauer als zuvor ist, stellt in
diesem Fall tatsächlich eine Stärke des Romans dar.
Wer geistreiche Unterhaltung mit Suchtfaktor sucht, der ist hier
bestens aufgehoben.
(Roland Freisitzer; 10/2016)
John
Wray: "Das Geheimnis der verlorenen Zeit"
(Originaltitel "The Lost Time Accidents")
Übersetzt
von Bernhard Robben.
Rowohlt, 2016. 736 Seiten.
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John
Wray studierte am Oberlin College, an der Columbia
University und an der Universität Wien. Er lebt als
freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten).
Zwei weitere Bücher des
Autors:
"Gotteskind" zur
Rezension ...
"Retter der Welt"
Will Heller oder "Lowboy", wie er sich nennt, ist schizophren
und
gefährlich. Nun ist er aus der Anstalt ausgebrochen, die Polizisten
sind hinter ihm her mitsamt seiner Mutter. "Lowboy" macht sich auf die
Flucht durch die Tunnel und Katakomben der New Yorker U-Bahn, denn er
weiß: Nur er kann die Welt vor dem Untergang bewahren.
(rororo)
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