Marko Lipuš: "Babica"
Auf den Spuren der Großmutter
Wie
          ist das, wenn ein
          Enkel nur ein einziges Bild seiner Großmutter kennt? Es zeigt
          sie gemeinsam mit ihrem Mann Franz auf einer Bank sitzend. Sie
          lächelt etwas, ein junges Paar. Nur wenige Jahre
          später verschwindet Maria, so ihr Name, im
            Konzentrationslager
            Ravensbrück. Ihr Leben endet vernichtet von einer brutalen
          Mordmaschinerie.
          
          Marko Lipuš hat sich auf Spurensuche begeben. Er ist
          Fotograf, und die Bilder sind eine Annäherung an ihr Leben.
          Die Erinnerung ist verwischt. Wer war diese Frau? Wie hat sich ihr
          Leben gestaltet? Ihr Enkel setzt Böden ins Bild, auf denen sie
          gegangen sein könnte, dringt bis in die Haut seines
            Vaters,
          also des Sohnes von Maria vor, die als ihr Erbe betrachtet werden
          kann.
          Marko Lipuš lässt Zahnbürsten,
          Kämme und Häferln für sich sprechen. Er
          verfremdet die Böden, die Haut und die Gegenstände
          durch leichte Verkratzungen. Dadurch ändert sich die
          Sichtweise, wird ein Stück Erinnerung ins Bild
          gerückt, für die es gar keine Worte geben kann.
          
          Ein Aspekt dieses mit Essays angereicherten Fotobandes sei besonders
          hervorgehoben: Es gibt nämlich Bilder, die
          buchstäblich aus dem Nichts hervorzuschimmern scheinen.
          Bilder, bei denen nur vermutet werden kann, was sie darstellen. Doch
          bei genauem Hinsehen wird einiges sichtbar. Diese bloßen
          Andeutungen sind jedenfalls für den Rezensenten das
          Herzstück der Spurensuche. So schnell kann ein Leben im
          Verschwinden abtauchen. Es bleibt scheinbar nichts mehr übrig
          als eine dunkle Fläche, durch die kaum Licht dringt.
          Tatsächlich ist dies eine andere Perspektive, der sich der
          Betrachter hingeben kann. Dann verschieben sich die Eindrücke.
          Die Dunkelheit wird mehr und mehr vom Licht durchdrungen, bis so etwas
          wie ein Stück nicht erklärbare Wahrheit aufleuchtet.
          Ein richtiggehend metaphysischer Vorgang.
          
          Maria Lipuš ist wie ein Geheimnis, das im Verborgenen lebt.
          Ihr Enkel hat durch den Vorgang der Verkratzungen des Fotomaterials
          die
          individuelle Komponente ihres Daseins hervorgehoben. Wer diesen
          Fotoband durchblättert, dem wird durch die Gesamtstruktur
          etwas offenbar, das bestimmte Erinnerungen aufleuchten lässt.
          Denn es gibt so etwas wie eine Verbindung zwischen den Fotos und den
          Betrachtern. Es gibt einen Dialog, in dessen Mittelpunkt eine Frau
          steht, von der selbst deren Enkel nur ein einziges Foto kennt. Das ist
          eine Form von Erinnerungskultur, die in den Bann zieht.
          
          Marko Lipuš wurde 1974 in Eisenkappel geboren. Der Fotograf
          wurde bereits mit mehreren Preisen bedacht. Zuletzt 2015 mit dem "Bank
          Austria Kunstpreis". 
          
          Die Fotografien werden von Essays ummantelt. Als Autoren fungieren
          hierbei Margit
            Zuckriegl, Felicitas Thun-Hohenstein und Sabine Arend.
          Die Essays erklären ein Stück weit die Arbeitsweise
          des Fotografen, die Hintergründe der Arbeit und die
          historische Komponente.
(Jürgen Heimlich; 05/2016)
Marko
          Lipuš: "Babica. Auf den Spuren der Großmutter"
        Residenz Verlag, 2016. 112 Seiten.
        
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