Michel Houellebecq: "Unterwerfung"


"Mir war aber bereits klar geworden, dass der sich seit Jahren verbreiternde, inzwischen bodenlose Graben zwischen dem Volk und jenen, die in seinem Namen sprachen - also Politikern und Journalisten -, notwendigerweise zu etwas Chaotischem, Gewalttätigem und Unvorhersehbarem führen musste."

Der Roman hatte keinen leichten Start: von einem Schriftsteller geschrieben, der schon mit oberflächlichen Provokationen in Richtung Islam unangenehm aufgefallen war, wurde es aufgrund seiner Thematik, des Szenarios eines sich islamisierenden Frankreichs, von Anfang an als literarischer Sprengstoff angesehen, bestenfalls der Auflagensteigerungslust mit gefährlichen Mitteln verdächtigt. Als sein Erscheinen dann auch noch zeitlich mit dem Anschlag auf ein Pariser Satiremagazin, bei dem übrigens ein Freund Houellebecqs ums Leben kam, zusammenfiel, ging es in vielen Besprechungen weniger um seinen Inhalt als um die Gefahren, gegen die die Rezensenten anschreiben zu müssen schienen. Der hochvernünftige, wenn auch unliterarische Vorsatz, kein weiteres Öl ins Feuer zu gießen, wurde mit einer so wilden Entschlossenheit ausgeführt, dass das Buch, obwohl gänzlich frei von Antiislamismus, wenig verdiente Würdigung erfuhr.

Frankreich im Jahre 2022: die Entscheidung der Präsidentenwahl steht vor der Tür, in einer ein wenig an die von 2002 erinnernden Zuspitzung trifft die Kandidatin des Front National, Marine Le Pen, überraschend auf den Führer der gemäßigten Moslempartei, Mohammed Ben Abbes. Beim ersten Stichwahlversuch kommt es zu Tumulten, bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Identitären, dem Front nahestehenden selbsternannten Heimatschützern, und bewaffneten Moslemgruppen. Der Wahlgang wird abgebrochen, in einem Schulterschluss gegen Rechtsextrem geben die Sozialistische Partei und einige konservative Politiker Wahlempfehlungen für Ben Abbes ab, der wirklich die Wahl im zweiten Versuch gewinnt. Über die Geschehnisse rund um diese ein politisches Erdbeben auslösende Wahl hinaus spielt "Unterwerfung" in den ersten paar Monaten der Amtszeit des islamischen Präsidenten, beschreibt dabei vor allem den allmählichen Veränderungsprozess, im Zuge dessen immer mehr Elemente islamischer Kultur in Frankreich Einkehr halten und viele Franzosen, nicht zuletzt aus opportunistischen Gründen, zum sunnitischen Islam übertreten.

Das islamische Frankreich, das Houellebecq da entwirft, hat er sich möglichst positiv zu zeichnen bemüht, für den Europäer Verstörendes erwähnt er nur dort, wo es so unvermeidlich scheint wie verschwindende Miniröcke; Alkohol ist im weinseligen Frankreich kein Problem, allerdings bevorzugt, so hat man den Eindruck, im eigenen Heim. Der gravierendste Negativpunkt ist keine Erfindung des Schriftstellers, sondern Tatsache: französische Juden, die wegen der feindseliger werdenden Stimmung ("das Verhältnis zu den Juden ist durch den Palästinakonflikt vergiftet", heißt es an einer Stelle) in großen Scharen das Land verlassen, wie es seit einigen Jahren in Frankreich zu beobachten ist. Im Übrigen scheint sich die Wahl von Ben Abbes jedoch ausgezahlt zu haben, das Land stabilisiert sich, moslemische Jugendliche zünden keine Autos mehr an, mit dem charismatischen Ben Abbes, der sich klar vom Salafismus abgrenzt  und den Islam eher, wie gesagt wird, als vollendete Form eines alles wieder vereinigenden Humanismus begreift, hat man einen weithin akzeptierten Präsidenten, der große Summen von der arabischen Halbinsel ins Land zieht, die internationale Reputation Frankreichs durch seine Vorbildwirkung und die engen Verbindungen zu Nordafrika wieder stärkt und auch innenpolitisch klare Vorstellungen hat: Familienförderung, mit besonderen finanziellen Vergünstigungen, wenn die Frau daheim bei den Kindern bleibt, eine Maßnahme, welche die Arbeitslosigkeit schlagartig senkt, unkonventionelle, kleinunternehmenfreundliche Wirtschaftsideen, Senkung des Schulpflichtalters auf zwölf und ähnliches mehr.

Erzählt und kommentiert werden diese weitreichenden Veränderungen von François, Professor für französische Literatur an der Sorbonne, Spezialist für Huysmans, einen dekadenten Schriftsteller des späten 19. Jahrhunderts. Dekadent bis in die Knochen ist auch François, im Gegensatz zu Huysmans, welcher letzterer als Zola-Schüler begann, sich in einen jahrelangen Magierkrieg diverser Spiritisten hineinziehen ließ, schließlich Zuflucht zur Katholischen Kirche nahm und daneben einige Bücher, die auch heute ihren Reiz besitzen, schrieb, aber ein absoluter Antiheld. Unehrgeizig und antriebslos, zwar "noch jung wirkend", aber bereits körperlichen Verfall da und dort und schwindende Lebenslust im allgemeinen verspürend, steht er, in einer sehr zugespitzten Form, für das rationale, atheistische Frankreich. Unfähig, seine nicht besonders ausreisewillige Freundin in Paris zu halten, erleben wir ihn, wie er sein Heil in der Folge, wenn er nicht gerade von seinen Krankheiten gepeinigt wird, bei diversen Prostituierten sucht, Szenen, in denen Houellebecq sehr gut das Lächerliche solchen Unterfangens herauszuarbeiten versteht. Im übrigen verfolgt François interessiert die Wandlungen seiner Kollegen vor und während der neuen Zeit, lässt sich von einem pensionierten Geheimdienstler, einem freundlichen, scharfsinnigen, illusionslosen Mann, der weiß, wieviel er wo verraten darf, über manche Hintergründe der Ereignisse aufklären, beginnt sich in Anlehnung an Huysmans intensiver mit dem französischen Mittelalter zu beschäftigen, um schließlich, gegen Ende des Romans, kurz davor zu stehen, zum Islam überzutreten.

Houellebecq ist in seinem Roman zwar um möglichst große Realistik des Geschehens bemüht, wichtiger ist es ihm aber, mit seinem aus unterschiedlichen Versatzstücken zusammengesetzten Zukunftsszenario interessanten Verbindungen, Verwandtschaften und Bündnismöglichkeiten geistiger Strömungen und Entwicklungen nachzuspüren. Und um Gelegenheiten, die Dinge beim Namen zu nennen, denn die französische Politik - am schlimmsten Bayrou, am wenigsten Sarkozy - muss Verbaltreffer von einer apodiktischen Verdammnis einstecken, die dem Schriftsteller seitens eines Kritikers bereits das Prädikat "bernhardesk" eingebracht haben. Überhaupt kann man sagen, dass es in "Unterwerfung" weniger um den Islam als um den Zustand Frankreichs und der Franzosen, um ihre altersschwachen Ideale (über die Achtundsechziger kann man beispielsweise lesen, sie seien "aussterbende progressistische Mumien", die allerdings über die Medien noch Einfluss haben), Sitten und Befindlichkeiten, ihre opportunistische und kreative Wandelbarkeit geht. Wieweit man das Bild eines islamischen Frankreichs als Warnung, Lockung, wahrnehmungserweiterndes Spiel mit Möglichkeiten oder was immer verstehen möchte, ist Sache des Lesers.

(fritz; 07/2015)


Michel Houellebecq: "Unterwerfung"
(Originaltitel "Soumission")
Aus dem Französischen von Norma Cassau, Bernd Wilczek.
Dumont, 2015. 280 Seiten.
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