Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Schwarzer Flieder"


Ein grandioser Familienroman aus Österreich

Der 1982 im oberösterreichischen Kirchdorf an der Krems geborene Reinhard Kaiser-Mühlecker hat in den letzten Jahren einen gewichtigen Platz in der jungen österreichischen Literatur eingenommen. Sein Schaffen scheint sich mühelos allen Experimenten und gewollt komplexen Erzählstrukturen zu verweigern, seine Prosa fließt perfekt ausgehört dahin und zieht den Leser vom ersten Satz weg tief in das Geschehen seiner Erzählung hinein.

"Schwarzer Flieder" ist die Fortsetzung seines über 600 Seiten starken Romans "Roter Flieder", der die Geschichte der oberösterreichischen Familie Goldberger erzählt. Auch wenn "Roter Flieder" ein in sich abgeschlossenes Meisterwerk ist, entpuppt sich "Schwarzer Flieder" nicht nur als ein alles relativierender Nachfolger, sondern auch, durch die Geschehnisse und die relative Kürze des Texts bedingt, als perfekt abgestimmter Schlussakt dieses Dramas.

Denn als solches kann die Geschichte der Goldbergers wohl gesehen werden, vom Urgroßvater Goldberger, dessen Systemtreue während der Kriegszeit den Grundstein für die folgenden Konflikte in der Familie und in der Dorfgemeinschaft legt. Der junge Autor schafft es scheinbar spielerisch, den Weg der Familie Goldberger dezent im Lichte der österreichischen Geschichte zu spiegeln, ohne dabei je auch nur den leisesten Verdacht zu wecken, man lese eine moralisierende Erinnerung an die unrühmliche Vergangenheit.

Gespannt verfolgt man das Geschehen der Familienmitglieder, verfolgt den Ausstieg des Sohnes Ferdinand, der nach Bolivien geht, bis man am Ende von "Roter Flieder" erfährt, dass der in Bolivien verstorbene Ferdinand ebenfalls Vater eines Sohnes war, der auch Ferdinand heißt. Ferdinand wird in die Familie aufgenommen und geht zum Studium nach Wien.

"Schwarzer Flieder" setzt zu einem Zeitpunkt ein, an dem Ferdinand bereits im Ministerium tätig ist und zufällig von einem Freund von einer Bekanntschaft hört, die dieser mit einer Frau gemacht hat, die sich bald als Ferdinands verflossene Liebe erweist. Die Trennung vor einigen Jahren, so diffus begründet und passiert, dass Ferdinand alte Gefühle in sich aufkeimen spürt. Er beginnt zu forschen und findet bald Susanne, um deren Liebe er sich erneut bemüht.

Wechselnd zwischen Rückblenden und den aktuellen Geschehnissen, weiht der Autor den Leser in die Zeitspanne der Geschichte zwischen den beiden Romanen ein.

Bei einem Besuch am Hof, bei dem er seinen Verwandten die freudige Nachricht der bevorstehenden Hochzeit mit Susanne erzählen will, bemerkt er zwischen seinem Onkel Thomas und dessen Neffen Leonhard unheilvolle Spannungen, die ihn nachdenklich stimmen. Als wenig später Susanne Selbstmord begeht, implodiert Ferdinands Welt. Er klammert sich nun mit völliger Vehemenz daran, herauszufinden, warum sein Vater auf so mysteriöse Art und Weise in Bolivien getötet wurde. Er kündigt in Wien seine Stelle und geht, ebenso wie sein Vater viele Jahre zuvor, nach Bolivien. Das hier Erlebte hilft ihm, seine Wertigkeiten neu zu ordnen und innere Ruhe und Sicherheit zu finden.

In Bolivien erfährt er, dass sein Onkel Thomas den Neffen Leonhard im Streit gestoßen und, wenn auch ungewollt, getötet hat. Er kommt auf Bitte seine Tante Sabine nach Österreich zurück und übernimmt, während Thomas im Gefängnis seine Strafe absitzt, den Hof, der, als Symbol für die komplette Familiengeschichte, nun für sämtliche Verfehlungen und Irrungen herhalten muss.

In seiner ruhigen, gänzlich unspektakulär schönen Prosa erzählt der Autor diese Familiengeschichte, die sich von Beginn an wie ein wirklicher Klassiker liest. Es ist genau diese Reduktion auf das Wesentliche, auf die Erzählung per se, die diesem beeindruckenden Text diese Größe verleiht. Es ist spektakulär, wie die Figuren leben, wie glaubhaft Reinhard Kaiser-Mühlecker die passiv über die Generationen weitergegebene Schuld seine Protagonisten steuern lässt, wie gekonnt dadurch Verhaltensstrukturen deutlich gemacht werden, ohne vom Autor auch nur ein einziges Mal wertend kommentiert zu werden, wie virtuos der Autor mit fast biblischer Wucht alles auf zwei tragische Vorfälle hin treibt, nur um am Ende die endgültige, nur vermeintlich übertriebene Katharsis walten zu lassen. Allein in der kompletten Zerstörung findet sich die Möglichkeit eines sinnvollen Neuanfangs.

"Schwarzer Flieder" ist, unbedingt im Zusammenhang mit "Roter Flieder", ein absolutes Meisterwerk eines noch jungen Autors. Ein Romanzyklus, (der Rezensent geht davon aus, dass dieser mit "Schwarzer Flieder" abgeschlossen ist), der in der österreichischen Literatur hoch über die sowieso großartige Literaturlandschaft hinausragt, sicherlich einer der wichtigsten Texte der letzten Jahre. Ein Roman, ein Romanzyklus, den man eigentlich jedem ans Herz legen möchte, einfach weil ihn jeder gelesen haben sollte.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 03/2014)


Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Schwarzer Flieder"
Hoffmann und Campe, 2014. 237 Seiten.
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Reinhard Kaiser-Mühlecker debütierte im Jahr 2008 mit dem Roman "Der lange Gang über die Stationen". Es folgten die Romane "Magdalenaberg" (2009), "Wiedersehen in Fiumicino" (2011) und zuletzt "Roter Flieder" (2012). Seine Arbeit wurde u. A. mit dem "Jürgen-Ponto-Literaturpreis" und dem "Kunstpreis Berlin" ausgezeichnet.
Lien zur Netzpräsenz des Autors: http://www.kaiser-muehlecker.at/

Weitere Bücher des Autors:

"Der lange Gang über die Stationen"

"Meine Frau war zu mir gezogen. Sie kam nicht aus der Gegend, sondern von weiter her, und diese Umgebung hier war ihr noch recht neu und unbekannt. Und da, ganz am Anfang, war alles noch so einfach."
Theodor übernimmt den Hof der Familie, lebt dort mit seinen Eltern und heiratet eine Frau aus der Stadt. Diese Geschichte erzählt von zwei Menschen, die sich sehr nahe sind, zwischen denen aber Fragen auftauchen, die unbeantwortet bleiben. Immer weniger versteht der Mann, was passiert, immer mehr hat er das Gefühl, dass ihm die vertraute Welt entgleitet. (Fischer)
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"Magdalenaberg"
Joseph, ein junger Mann, übernimmt den elterlichen Hof nicht, sondern zieht in die Stadt. Doch dort wird er nicht heimisch. Er kauft ein Haus in einem kleinen Dorf und lernt eine Frau kennen. Katharina bleibt zwei Jahre bei ihm, und eines Tages verschwindet sie. Sein jüngerer Bruder Wilhelm ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. In Gedanken kehrt Joseph auf den Magdalenaberg zurück, an den Ort seiner Kindheit. Doch seine Eltern verstummen zusehends. Die Katastrophen geschehen langsam und schleichend. Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt eine ernste und wehmütige, so moderne wie uralte Geschichte von Herkunft und Familie, von Sehnsucht und Verlust. (Fischer)
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"Wiedersehen in Fiumicino"
Joseph geht für eine Nichtregierungsorganisation nach Argentinien, um sieben Monate in Buenos Aires zu arbeiten, und hat seine Freundin ohne ein Wort im heimatlichen Österreich zurückgelassen. Dann kehrt er ebenso unvermittelt zurück und muss erkennen, dass die Welt sich weitergedreht hat.
In vier Perspektiven wird das Porträt eines außergewöhnlichen jungen Mannes gezeichnet. Joseph übt eine eigenartige Faszination auf seine Mitmenschen aus. Der Grund muss in seiner grenzenlosen Unabhängigkeit liegen. Unbeirrbar folgt er seinem Interesse, seinem Inneren, seiner Intuition. Als Joseph Savina begegnet, gibt es für ihn kein Ausweichen; er denkt auch nicht an die Frau, die er in Österreich zurückließ. Doch immer an demselben Punkt hat er das Gefühl, er kann nicht weiter. Dann wendet er sich ab. Und ihm kommt seine ehemalige Freundin erst wieder in den Sinn, als er sie nach Monaten in Fiumicino am Flughafen als Fotomodell wiedersieht. So ist die Kraft, die in einem Leben in der Gegenwart liegt, zugleich ein Verhängnis. (Hoffmann und Campe)
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"Roter Flieder"
Goldberger musste weg aus dem Innviertel. Man hatte ihm eine neue Existenz in einiger Entfernung versprochen - wenn er nur bald ginge. Und nachdem er seine Frau beerdigt hatte, verließ er Wald und Hof, begleitet von seiner Tochter Martha. Als Ferdinand aus dem Krieg nach Hause kam, da übergab Goldberger seinem Sohn die Verantwortung für den neuen Hof, mit dem er selbst nie etwas anzufangen gewusst hatte.
 Ferdinand gelang viel, die junge Familie kam zu etwas, "die Dinge liefen" und alles ging seinen vorherbestimmten Gang ...
Auf der langen Strecke gehen Menschen dreier Generationen verloren. Sie scheitern an ihrer Unfähigkeit, den Anderen wahrzunehmen, sich verständlich zu machen oder sich auch nur über die eigenen Gefühle klarzuwerden. Gottesfürchtigkeit und Schicksalsergebenheit bemänteln Sprachlosigkeit und stumme Gewalt. (Hoffmann und Campe)
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