Martin Lutz: "Carl von Siemens 1829-1906"

Ein Leben zwischen Familie und Weltfirma


Der wenig wahrgenommene "kleine Bruder" des Firmengründers

Wenn von den Anfängen der auch heute noch weltweit erfolgreichen Firma Siemens die Rede ist, geht es im Allgemeinen um Werner von Siemens, der mit einem Partner die Firma "Siemens & Halske" gründete. Dass zwei Brüder Werners ihr Leben lang in der Firma mitwirkten und weitere Brüder zumindest zeitweise, ist weniger bekannt, doch war "Siemens & Halske" ein Familienbetrieb.

Carl von Siemens kommt eine entscheidende, allerdings in der öffentlichen Wahrnehmung kaum gewürdigte Rolle für die Anfänge der späteren Weltfirma zu. Diese Rolle arbeitet Martin Lutz im Rahmen seiner Carl-von-Siemens-Biografie heraus.

Der später geadelte Carl Siemens stammt aus einer kinderreichen Familie, deren Herkunft der Autor nach einleitenden Abschnitten detailliert betrachtet. Früh verwaist, war Carl finanziell von seinem wesentlich älteren Bruder Werner abhängig, der alles tat, um seinen jüngeren Brüdern über eine fundierte Schulbildung einen guten Start ins Berufsleben zu ermöglichen.

Der Leser erfährt, wie der junge Carl, naturwissenschaftlich-technisch sehr begabt, zunächst bei einer anderen Firma arbeitete und dann bei "Siemens & Halske" einstieg, mit seinen ersten Aufgaben - teils schuldlos, teils aufgrund fehlender Erfahrung - scheiterte und schließlich geradezu seine Lebensaufgabe erhielt: die Übernahme des russischen Geschäfts der Firma. Siemens war zu dieser Zeit auf den Bau von Telegrafen spezialisiert, und im zaristischen Russland gab es in Bezug auf diese Technologie einen immensen Bedarf. Carl schloss lukrative Aufträge ab, heiratete und bekam Kinder.

Als Gegenpol zum eher behäbigen, sehr konservativen ältesten Bruder Werner konnte Carl Innovationen in der Firma einführen, tätigte aber auch kurz entschlossen teure Geschäfte, die gefährlich tiefe Löcher in das Firmenvermögen rissen, wie etwa der Erwerb einer Kupfermine im unerschlossenen Kaukasus. Hinzu kamen Krankheit und Tod in seiner Familie, Streitigkeiten mit den älteren Brüdern und andere Schwierigkeiten. So zeigt die Biografie von Carl von Siemens' immer wieder Brüche, schmerzliche Zäsuren, manchmal auch überraschend spontane Aktionen, die bei Werner von Siemens praktisch komplett fehlen.

Aufgrund der engen Verflechtung der Schicksale der Brüder Carl und Werner sowie des dritten dauerhaft für die Firma tätigen Bruders Wilhelm lassen sich die einzelnen Biografien nicht trennen, und wenngleich der Schwerpunkt des hier besprochenen Buches bei Carl liegt und dessen Lebensgeschichte, aber auch sein Charakter und Wesen und seine Bedeutung für die Firma sorgfältig und differenziert herausgearbeitet werden, lernt der Leser natürlich auch Werner und Wilhelm recht gründlich kennen; die nur zeitweise bei "Siemens & Halske" beschäftigten Brüder und Vettern finden ebenfalls Erwähnung, ebenso Werners Söhne.

Der Autor zeigt auf, dass der gewaltige Erfolg der späteren Firma Siemens ohne den mutigen und innovativen Carl wohl kaum möglich gewesen wäre, er geht aber auch auf die Schattenseite dieses Wagemuts und auf Carls psychische Probleme ein und lässt bisweilen sehr deutlich ausgeprägte antisemitische Tendenzen des Protagonisten nicht außen vor, die sich etwa gegenüber der jüdischen Führung des konkurrierenden Unternehmens AEG entluden.

Anschaulich und kurzweilig, dabei gehaltvoll und informativ zeichnet der Autor Carl von Siemens' bewegte Lebensgeschichte nach; zahlreiche zeitgenössische Fotos von Bauwerken und Personen untermalen diese. Ein umfangreicher Anhang ergänzt das Werk, das nicht nur für an Industriegeschichte Interessierte sehr anregende und empfehlenswerte Lektüre bietet.

(Regina Károlyi; 02/2013)


Martin Lutz: "Carl von Siemens 1829-1906.
Ein Leben zwischen Familie und Weltfirma"

C.H. Beck, 2013. 415 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Dr. Martin Lutz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin.