Stephan Thome: "Fliehkräfte"


In seinem für den "Deutschen Buchpreis 2012" nominierten Roman "Fliehkräfte" erzählt der in Biedenkopf in Hessen geborene Stephan Thome von einem Philosophieprofessor, dessen Leben und Ehe aus den Fugen geraten sind, und der, seiner Vergangenheit nachdenkend und seiner Zukunft entgegenpilgernd, versucht, den "Fliehkräften", die ihn und sein Leben auseinanderzureißen drohen, Einhalt zu gebieten.

Wie schon die Hauptperson in Thomes gefeiertem Debütroman "Grenzgang", stammt auch Professor Hartmut Hainbach aus der oberhessischen Heimatstadt Thomes, die hier wie dort Bergenstadt heißt. Hartmut Hainbach ist Ende Fünfzig, seine Tochter ist erwachsen geworden und lebt in Santiago de Compostela mit einer Freundin zusammen. Gegen Ende des Buches wird sie ihren Vater über die wahre Natur dieser Freundschaft aufklären.
Hartmuts Frau Maria stammt aus Portugal, wo die Familie viele Sommer verbracht hat.

Doch seit zwei Jahren hat sie die gemeinsame Wohnung in Bonn verlassen, wo Hartmut Hainbach seit vielen Jahren eine Philosophieprofessur innehat. Sie lebt in Berlin und arbeitet dort als Assistentin und auch zeitweise Geliebte eines außergewöhnlichen Theaterregisseurs. Unglücklich über diesen Zustand, hat sich Hartmut Hainbach bislang vergeblich beruflich zu verändern versucht. Da kommt ihm ein Angebot des Eigentümers eines wissenschaftlichen Verlags in Berlin gerade recht, wo er das philosophische Programm ambitioniert betreuen soll.

Hartmut Hainbach weiß nicht, wie er sich entscheiden soll, nicht zum ersten Mal in seinem Leben. Er fragt sich, ob seine Frau überhaupt möchte, dass er nach Berlin kommt. Kann er aus seinem Vertrag an der Uni Bonn heraus? Wird er nicht erhebliche Teile seines Pensionsanspruchs verlieren? Das sind nur einige der Fragen, die Stephan Thome in diesem Roman immer wieder stellt. Fragen, die manches Mal keine Antwort finden und im Raum stehen bleiben.

Hartmut Hainbach hält die unklaren Lebensverhältnisse nicht mehr aus. Er setzt sich in sein Auto, verlässt Bonn und bricht zu so etwas wie einer Pilgerreise auf, bei der ihm und dem Leser sein ganzes bisheriges Leben vor Augen geführt wird. In Paris trifft er seine erste große Liebe wieder, in Südfrankreich besucht er einen ehemaligen Bonner Kollegen, der vor Jahren schon der Uni aus Frust über den unsäglichen "Bologna-Prozess" den Rücken gekehrt hat und am neuen Ort ein Weinlokal betreibt.

An allen diesen Orten erhofft er sich Antworten und wird doch immer nur mit neuen Fragen konfrontiert. Wie auf einem echten Pilgerweg eben.  Schon hier und erst recht auf seiner Weiterfahrt nach Portugal zu den Verwandten seiner Frau und seiner Tochter wird nicht nur ihm, sondern auch dem Leser deutlich, dass das Leben eines Menschen mehrere Anfänge hat, dass es aus Abschnitten besteht, die jeweils ihren eigenen Beginn, ihr eigenes Ende und ihren eigenen Sinn haben, auch wenn der sich nicht immer sofort und oft erst unter Schmerzen erschließt.

Sehr geschickt wechselt Stephan Thome die Zeitebenen und lässt seinen Protagonisten immer klarer werden, ohne dass er gleich die Antwort auf seine Fragen wüsste. Aber er macht sich zunehmend weniger selbst etwas vor, lässt seine Verzweiflung zu und kommt so langsam sich selbst und in der Folge dann auch den Menschen, die er liebt, wieder näher. Immer mit der Maxime: "Manchmal ist es besser, einen falschen Schritt zu tun, statt grübelnd auf der Stelle zu treten."

Es sind solche Weisheiten und die schon erwähnten unzähligen Fragen, mit denen Thome nicht nur seine Hauptfigur auf einen neuen Weg bringt, sondern auch den Leser, wenn der nur kritisch genug die Parallelen zu seinem eigenen Leben spürt, erheblich zum Nachdenken bringt.
Was kann Literatur mehr leisten?

Ein großer, empfehlenswerter Roman, der die Nominierung für den "Deutschen Buchpreis" verdient hat, auch wenn ihm das manche Kritiker dieser Tage absprechen.

(Winfried Stanzick; 10/2012)


Stephan Thome: "Fliehkräfte"
Suhrkamp, 2012. 474 Seiten.
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