Rainer Wieczorek: "Tuba-Novelle"


Eine musikalisch-literarische Auseinandersetzung mit Samuel Becketts Werk

In Ussy, dem Refugium des Nobelpreisträgers Samuel Beckett, soll ein Stipendiat einen Essay über Becketts Leben und Wirken an diesem Ort verfassen. Neun Monate stehen ihm hierfür zur Verfügung, eventuell auch eine Verlängerung; das sollte ausreichen, zumal der Essayist sich ausgezeichnet vorbereitet hat.

Aber dann zieht gegenüber, ins "Spanische Haus", ein Tubaspieler ein. Jeden Vormittag bläst er seine Übungen, just zu der Zeit, in der sein Nachbar wider Willen am besten schreiben könnte, wären da nicht die lautstarken Klänge des Blechinstruments.

Der Protagonist, stets etwas unpersönlich in der dritten Person als "er" auftretend, erfährt am eigenen Leibe, dass Ussy nicht nur der perfekte Ort zum Verfassen von Weltliteratur sein kann, sondern auch der Schauplatz einer hoffnungslosen Schreibblockade. Ähnliches hat Beckett erlebt, als ein benachbarter Landstreifen an einen Jäger verpachtet wurde. Verzweifelt versucht der Stipendiat, gegen die Tuba anzuschreiben, indes, es gelingt ihm nicht. Wochen vergehen, der Essayist beobachtet, wie der unsichtbare Tubist wacker vorankommt und eine Cello-Sonate einstudiert, die der Protagonist viele Male von seinem Vater, einem passionierten, aber nicht begabten Hobby-Cellisten zu hören bekommen hat, der beim Üben niemals gestört werden durfte. Und der Essayist bemerkt erstaunt, dass diese Cellosonate, auf der Tuba geblasen, definitiv gewinnt.

Immer mehr fesseln ihn der unsichtbare Tubist, das Instrument, das eigentlich unter Musikliebhabern wenig Wertschätzung genießt, und die Musik. Zugleich kommt es zu einer Auseinandersetzung mit dem Vater, der sich, wie der Sohn erkennt, durch das Üben vor der Familie und einer ungeliebten Wirklichkeit zurückzog.

Die Zeitvorgabe für das Stipendium geht zur Neige, als der Protagonist erkennt, dass er über die Tuba einen ganz neuen Zugang zu Beckett gefunden hat und sein Ansatz aus einem Miteinander, einer Art Duett, statt dem bisherigen einseitigen Konkurrenzkampf bestehen muss. Und unvermittelt vermag er wieder zu schreiben.

Mit der "Tuba-Novelle" setzt Rainer Wieczorek seine Trilogie fort, deren Anfang die von der Kritik sehr gut angenommene Novelle "Zweite Stimme" bildete. Ging es darin um die Bildende Kunst, so stellt der Autor im gegenständlich besprochenen Buch ein Spannungsfeld zwischen Musik und Literatur her, die sich schließlich als erstaunlich kongruent erweisen.

Auch Lesern, die in Bezug auf Beckett nur das zu einer guten Allgemeinbildung gehörende Wissen mitbringen, erschließt sich die Schönheit dieser Novelle, zumal der Autor viele Einzelheiten aus Becketts Biografie einfließen lässt. Dasselbe gilt für den musikalischen Aspekt. Zusammen mit dem Essayisten erlebt der Leser das Fortschreiten der Fähigkeiten des Tubisten, das auch anhand von Notenbeispielen verständlich wird, die das Textbild in unerwarteter Weise auflockern. Das Interesse an diesem im Orchester kaum beachteten Instrument wächst im Protagonisten wie im Leser, wiewohl die Tuba sich immer wieder lästig und penetrant in die verzweifelten Versuche des Stipendiaten drängt, seine Zeit gewinnbringend, das heißt, mit einem Essay als Produkt, zu investieren.

Die Erkenntnis, dass er just dies die ganze Zeit über getan hat und nur im Zusammenklang mit der Tuba Erfolg haben wird, bildet den Wendepunkt der Novelle. Am Ende erhascht er sogar einen Blick auf den Tubisten, was den Leser nicht überraschen wird.

Musik und Literatur in einem innigen, eng umschlungen ausgeführten Tanz, an einem ganz besonderen, fast magischen Ort, eine stimmungsvolle, durch ihren strukturierten Aufbau ebenso wie ihren spielerisch-eleganten und dabei in gewisser Weise warm getönten Stil bestechend, manchmal bewusst ein wenig akademisch, bisweilen in Anklängen gefühlvoll, präsentiert sich diese Novelle als ein ganz bezauberndes Stück Literatur von wunderbarer Klarheit und Aussagekraft.

(Regina Károlyi; 04/2010)


Rainer Wieczorek: "Tuba-Novelle"
Dittrich Verlag, 2010. 121 Seiten.
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Rainer Wieczorek wurde 1956 in Darmstadt geboren. Für seine Erzählungen erhielt er im Jahr 1997 den "Lichtenbergpreis für Literatur". Eine umfassende Sammlung seiner Erzählungen erschien unter dem Titel "Zweifelhafte Geschichten". Für die Künstlernovelle "Der Intendant kommt" wurde er anno 2008 mit dem "Gerhard-Beier-Preis" ausgezeichnet

Ein weiteres Buch des Autors:

"Zweite Stimme. Eine Künstlernovelle"

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