Nikolaus Harnoncourt: "Töne sind höhere Worte"

Gespräche über romantische Musik
Herausgegeben von Johanna Fürstauer


Goldene Worte Harnoncourts

"Lesen Sie mit dem Bleistift?", fragt der Musik-Journalist Max Nyffeler den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt in einem Gespräch vom 27.02.2002. Harnoncourt bejaht diese Frage ausdrücklich. "Immer. Ich lese immer mit dem Bleistift", sagt er und fügt hinzu, dass er zunächst fast immer konträr zu dem eingestellt ist, was er da gerade liest, sich aber glücklich schätzt, wenn er irgendwo zustimmen kann.

Auch der Rezensent liest mit dem Bleistift, macht Unterstreichungen und Randnotizen im Text, und auch er kann sich glücklich schätzen, da er den Aussagen Nikolaus Harnoncourts in seinen hier veröffentlichten Gesprächen über (nicht ausschließlich) romantische Musik beinahe vorbehaltlos zustimmen kann. Und der Bleistift des Rezensenten kritzelt unermüdlich, so reich an Bemerkenswertem sind die Antworten Harnoncourts, die er seinen Interviewpartnern kredenzt. Diese Interviews sind zu den unterschiedlichsten Anlässen geführt worden, zu Konzertaufführungen, zu Geburts- und Gedenktagen, anlässlich von Preisverleihungen und so weiter. Sie erstrecken sich über einen Zeitraum von 1982 bis Mai 2007.

Das Buch gliedert sich in vier große Abschnitte, wovon der erste mit "Lebenslinien" betitelt ist. Wie die Überschrift bereits andeutet, geht es hier neben der Musik auch um andere grundlegende Dinge, um Aspekte der Kunst im Allgemeinen, um Lebensphilosophie. Und - wie könnte es anders sein - dürfen auch ein paar nachdenkliche Worte über die Liebe nicht fehlen. Auffallend aber ist Harnoncourts Kulturpessimismus, der immer wieder anklingt, ganz besonders im Gespräch zur kulturellen Situation in Österreich vom Juli 2006. Dieser Pessimismus beschränkt sich natürlich nicht auf die Situation in Österreich, sondern gilt für den gesamten mitteleuropäischen oder westlich orientierten Kulturkreis. Harnoncourt: "In den südamerikanischen Ländern singt jeder, bei uns kann ja kein Kind mehr singen." Harnoncourt zur Bildungspolitik: "Die Kinder werden abgefüllt mit Wissen, das rein zweckbetont ist. Doch es hängt viel davon ab, wie man als Mensch entwickelt wird und nicht als brauchbares Zahnrad in einer Maschine." Harnoncourt zur populären Musik: "Was in dieser Branche an Schlechtem passiert, was da gemacht wird, nur weil die Leute sexy ausschauen, das dürfte man nicht einmal als U-Musik durchgehen lassen." Das es auch anspruchsvolle U-Musik gibt, stellt Harnoncourt allerdings nicht in Abrede. Seine Kernaussage zur Kunst und zur Kulturpolitik ist die, dass die Kunst ein absolut notwendiger Bestandteil unseres Lebens ist, da sie einen Gegenpol zum ausschließlich zweckgerichteten Denken darstellt. Denn auf der Basis des Zweckmäßigen kann es nach Meinung Nikolaus Harnoncourts weder Ethik noch Moral geben. Dabei sieht er eine enge Verbindung zwischen der Kunst und der Religion, speziell zwischen Musik und Religion. "Eine unreligiöse Musik gibt es nicht." Seine eigene Lebensphilosophie bezeichnet Nikolaus Harnoncourt gern als Knödeltheorie, das will heißen, man hat eine Masse, und wenn man etwas davon verändern will, muss man irgendwo etwas wegnehmen. Also muss auch beim Fortschritt immer etwas an Substanz geopfert werden. Eine reine Verbesserung kann es demnach nicht geben.
Der zweite Teil des Buches ist den Komponisten Schubert und Beethoven gewidmet. Es geht da um die Schubert- und Beethoven-Rezeption, um Aufführungspraxis, um die musikalische Rhetorik. Gerade beim letzten Punkt, der Rhetorik, verweilt Nikolaus Harnoncourt gern und ausgiebig. Immer wieder stellt er den Terminus "Klangrede" zur Diskussion. Auch seine Bücher "Musik als Klangrede" und "Der musikalische Dialog" befassen sich ausführlich mit der Sprache der Musik, die nach Harnoncourt Gegensätze auf eine Weise zum Ausdruck bringen kann, wie es die verbale Sprache nicht zu leisten vermag, die Musik kann sowohl ja als auch nein sagen, und das auch noch gleichzeitig. Und mehr als jede andere Musik spricht die Musik Franz Schuberts Nikolaus Harnoncourt an. "Für mich ist Schubert der Komponist, an dem mein Herz am meisten hängt. Es gibt vielleicht keinen anderen Komponisten, der eine so persönliche Sprache hat."

Von Schubert und Beethoven führt der Weg des Lesers in "Das romantische Jahrhundert und seine Komponisten", den dritten Teil dieses hochinteressanten Buches. Auch hier beschränkt sich Harnoncourt auf die Präsentation von Musik der ganz großen Meister wie Robert Schumann oder Johannes Brahms und stellt das Charakteristische ihrer Kompositionsweise heraus, das Eigentümliche ihrer musikalischen Sprache. Auch hier kommt Harnoncourt immer wieder mit der ihm eigenen Emphase auf die Musik als Klangrede zu sprechen, die über die Möglichkeiten der verbalen Rede hinausgehen kann. Er versucht dies am Beispiel von Schumanns "Faust-Szenen" zu verdeutlichen. Goethe hat das im "Faust" in Worten ausgedrückt, was überhaupt auf diese Weise möglich war, auszudrücken. Schumann hat dann mit seiner Musik das Unsagbare vermittelt. Bei der Uraufführung der "Faust-Szenen" in Dresden sollen Zuhörer zu Schumann gesagt haben, dank seiner Musik hätten sie den Sinn des "Faust" erst richtig verstanden.

Harnoncourt bezieht auch Stellung gegen die weit verbreitete Auffassung, große Künstler, seien es nun Dichter, Maler oder Musiker, ließen Autobiografisches in ihre Werke einfließen. Harnoncourt: "Das machen nur die ganz miesen Kleinmeister." Er zieht also einen Trennstrich zwischen Werk und Biografie, wie es der Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung auf ähnliche Weise im Rahmen seiner Ausführungen zu Psychologie und Dichtung getan hat. Biografische Ereignisse bereichern wohl das emotionale Spektrum der Künstler, aber die Werke wirklich genialer Künstler wie Beethoven oder Schubert stehen in ihrer künstlerischen Vollendung hoch über allem Persönlichen. In den Kreis dieser großen Komponisten bezieht Nikolaus Harnoncourt ausdrücklich Antonín Dvořák mit ein. "Dvořáks Musik ist von einer ungeheuren Tiefe, es gibt Schönheit, Melancholie, Sehnsucht ... Das ist keine Sentimentalität, sondern sehr tief gehende Expression." Der Rezensent empfindet dies übrigens ebenso. Widerspruch regt sich bei mir nur, wenn Nikolaus Harnoncourt die sogenannten Kleinmeister in Bausch und Bogen mies machen möchte. Ich persönlich könnte zum Beispiel stundenlang der Musik Stephen Hellers oder Theodor Kirchners lauschen. Aber das sind ja vielleicht gar keine "Kleinmeister", sondern vielmehr "Großmeister" der kleinen Formen, "Großmeister" der Klavierminiaturen. Und Harnoncourts Behauptung: "Es haben nur die allergrößten Meisterwerke eine Berechtigung, aufgeführt zu werden", mag ich auch nicht vorbehaltlos zustimmen.

Im letzten Abschnitt des Buches, dem "Aufbruch zur Jahrhundertwende", wird es noch einmal richtig wienerisch, denn hier steht die Musik von Johann Strauß im Mittelpunkt der Diskussion. Johann Strauß und der genuine musikalische Wiener Dialekt, der sich ja ebenfalls in den Werken Franz Schuberts so deutlich offenbart. Herr Harnoncourt hält ein leidenschaftliches Plädoyer für Johann Strauß und seine Musik. "Ich nahm seine Musik immer ernst, genauso wie eine Brahms-Symphonie oder die Matthäuspassion von Bach." Schönbergs Zwölftonmusik hingegen sieht Harnoncourt offenbar als einen Irrweg an. Das Hauptthema der letzten Gespräche, die in diesem Band abgedruckt sind, ist die Oper, ganz speziell die Oper Verdis. Monteverdi, Mozart und Verdi bilden für Harnoncourt das Dreigestirn am internationalen Opernhimmel. Mit Wagner hingegen verbinden ihn augenscheinlich zu wenige Berührungspunkte, wiewohl er in Richard Wagner als Künstler und Musiker ebenfalls einen "Riesen" sieht.
Die für meine Begriffe wohl wichtigste Feststellung Nikolaus Harnoncourts findet sich auf Seite 347 des Buches. Dort heißt es: "Ich bemerke immer wieder, dass Menschen sagen: Ich mag keine klassische Musik, aber die Kleine Nachtmusik wohl; ich hasse Oper, aber ich mag Carmen! Das sind Leute, die sonst überhaupt nichts kennen, und die würden mit einem ganz kleinen Anstoß - wie nach einem kleinen zufälligen elektrischen Schlag - Mozart und Beethoven verschlingen. Da ist etwas allgemein Bildungsmäßiges kaputt, was ich nicht wirklich verstehen kann. Das ist ein wirklicher Schaden."

Viele andere wertvolle Denkanstöße erfährt der Leser aus dem berufenen Munde Nikolaus Harnoncourts, nicht nur zur romantischen Musik, zu deren Inhalten, deren Rezeption und Aufführungspraxis, auch zu anderen, für das menschliche Seelenleben wichtigen Bestandteilen. In ihrem Vorwort versucht die Herausgeberin Johanna Fürstauer zunächst eine Begriffsbestimmung des "Romantischen" zu geben, ganz allgemein und dann natürlich besonders in Bezug auf die Musik. Im Anhang finden sich noch biografische Daten zu den Journalisten und Musikwissenschaftlern, die die Interviews geführt haben und somit zum Zustandekommen dieses Bandes beigetragen haben. Eine absolut empfehlenswerte Lektüre!

(Werner Fletcher; 10/2007)


Nikolaus Harnoncourt: "Töne sind höhere Worte. Gespräche über romantische Musik"
Herausgegeben von Johanna Fürstauer.

Residenz Verlag, 2007. 424 Seiten.
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"So befinden wir uns heute also in einer nahezu ausweglosen Lage, wenn wir noch immer an die verändernde Kraft und Macht der Musik glauben und sehen müssen, dass die allgemeine geistige Situation unserer Zeit die Musik von ihrer zentralen Position an den Rand gedrängt hat - vom Bewegenden zum Hübschen. Wir können uns aber damit nicht abfinden, ja, wenn ich sehen müsste, dass das die unwiderrufliche Situation unserer Kunst ist, würde ich sofort aufhören, Musik zu machen." (Residenz Verlag)
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