Sten Reen: "Kornblum"


Tanz auf dem Vulkan

Es ist eine Zufallsbegegnung, die sich intensiv und explosiv entwickelt hat, nicht zuletzt, weil reichlicher Alkoholgenuss vorausging. Und es scheint, dass Theresa Mind, genannt Terri, und Robert Kornblum füreinander bestimmt sind, auch wenn ihre einzige große Gemeinsamkeit wohl in der Mittel- und Perspektivlosigkeit besteht.

Gewiss, Visionen existieren. Insbesondere bei Terri, Mutter eines kleinen Sohnes, die immer wieder Anwandlungen von höchster Kreativität und ungestümen Aktionismus entwickelt, jedoch auch bei Robert. Der Gerüstbauer aus Vernunft und Künstler aus Neigung verliebt sich Hals über Kopf in Terri, und plötzlich gerät sein bislang auf relativ niedrigem Niveau solides Leben aus den Fugen.

Das Leben mit Terri erweist sich als ein selbstmörderischer Tanz auf dem Vulkan. Liebesschwüre, romantisch-verspieltes Familienleben und exzessive Leidenschaft wechseln sich ab mit zunehmend gewalttätigen Hassorgien, Versuchen der Loslösung, dem Wunsch nach Therapie - und, unvermeidlich, Rückfällen. Denn längst ist Robert hörig und bedürfte selbst psychologischer Beratung.

Die Diagnose "Borderline" begegnet dem Protagonisten in diesem Roman relativ spät; der Leser dürfte schon früher erspürt haben, woran Theresa Mind leidet, aber er erlebt diese verzehrende, destruktive Liebe schließlich als Außenstehender und kann nur entsetzt versuchen, Distanz zu wahren.

Immer wieder wechselt die Erzählperspektive zwischen Robert und Terri als Ich-Erzählern, bisweilen tritt auch die Perspektive eines allwissenden Erzählers auf. Während der Leser Roberts Fühlen, Denken und Handeln zunächst gut nachvollziehen kann, wirkt dieser doch, wenngleich als Typ des scheinbar verkannten Künstlers und nicht etwa als ausgesprochen souveräner Charakter präsentiert, im Grunde bemerkenswert "normal", bleibt Terri ihm auch während der von ihr erzählten Passagen fremd. Hier besteht nun freilich eine Gemeinsamkeit mit Robert Kornblum, der zwar verzweifelt versucht, Terris unwägbare Aggressionen aufzufangen, sich jedoch nicht zurechtfindet innerhalb des Psychosengeflechts, das unabdinglich zum Borderline-Syndrom gehört.

Der Autor bemüht sich um ein Einfühlen in Terris Seele, ihr verqueres, durch entsetzliche Kindheitserlebnisse ausgelöstes Denken, doch so ganz gelingt das Eintauchen in die Welt einer Borderline-Betroffenen nicht - vielleicht zum Glück. Terri bleibt für den Leser, was sie auch für Robert noch nach der Diagnose ist: eine Stange Dynamit, eine Fleisch fressende Pflanze, ein balzendes Spinnenweibchen, eine Sirene; kurz, alles, was für Schönheit, Sex und Gefährlichkeit steht. Es ist freilich nicht ganz klar, ob in diesem Roman lediglich das Thema Borderline im Mittelpunkt steht oder der Autor mit dem bedrohlichen, den Mann verschlingenden Weib abrechnet, der biblischen Eva an sich.

Außer Robert und Terri treten noch etliche weitere Charaktere auf, so schräg und doch authentisch wie die beiden Protagonisten, meist ziemlich heruntergekommen und dennoch auf ihre Weise liebenswert. Die Sprache, derer sich der Autor bedient, passt zu Handlung, Personen und Schauplätzen: unkompliziert, in keiner Weise prätentiös und in den Dialogen häufig ordinär und vulgär. Nichts also für zart besaitete Schöngeister, an die sich der Roman allerdings auch nicht wendet.

Ganz gewiss gehören zur Zielgruppe Menschen, die am Borderline-Syndrom leiden, und nicht zuletzt deren Freunde, Bekannte ... und Partner, die den erwähnten schrecklichen Tanz auf dem Vulkan, die Achterbahnfahrten, den Mahlstrom mit erleiden und von ihnen ohne Aussicht auf Rettung erfasst werden. Denn Robert, ein ganz normaler kleiner Träumer, scheitert an Terri. Und er ist gewiss nicht allein. Doch das Werk fesselt auch Leser, die gewissermaßen zufällig, ohne Kontakt zu Borderline und ähnlichen Störungen, auf es stoßen.

Letztlich hinterlässt der Roman einen zwiespältigen Eindruck. Schwacher Mann stößt auf raffinierte Psychopathin, ziemlich viel Sex in diversen Spielarten und Obszönes, Achterbahn der Gefühle, Stoff für einen billigen Film. Aber dann ahnt man, wie echt diese Geschichte ist, dass sie so stattgefunden haben könnte, in der eigenen Stadt, dass sie so stattfindet, überall. Und das lässt den Leser nicht so leicht los.

(Regina Károlyi; 05/2010)


Sten Reen: "Kornblum"
Matthes & Seitz, 2010. 500 Seiten.
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Sten Reen, geboren 1961, studierte Philosophie und Sozialpsychologie. Zahlreiche Gelegenheitsarbeiten für Bühne, Film, Funk und langjährige pädagogische Tätigkeiten im Hochschulwesen. Sten Reen lebt bei Berlin. "Kornblum" ist sein erster Roman.