André Frank Zimpel: "Der zählende Mensch"

Was Emotionen mit Mathematik zu tun haben


Benötigen wir eine neue, humanere Mathematik?

Wir schreiben das Jahr 2008, das Jahr der Mathematik. Da fühlt sich natürlich so manch ein Autor berufen, sich dieses Themas anzunehmen. Das war nicht anders zu erwarten. Wie kommt aber ausgerechnet ein Professor für Erziehungswissenschaft, dessen Schwerpunkt auf dem Gebiet der Geistigbehindertenpädagogik liegt, dazu, hier seinen Beitrag beizusteuern? Einen ganz entscheidenden Beitrag, wenn man der Verlagsankündigung Glauben schenken will. Der Verlagstext spricht in diesem Zusammenhang sogar vollmundig von einer "kopernikanischen Wende" bei der Betrachtung der Mathematik. Und diese Wende soll nach den Vorstellungen des Autors wegführen von einer an Verdinglichung orientierten Ingenieursmathematik, um uns sodann zu einer mehr auf den Menschen ausgerichteten Humanmathematik hinzuleiten.

Diese Humanmathematik ist es, die im Zentrum von Zimpels Betrachtungen steht. Es geht also in diesem Buch in erster Linie um die vielschichtigen Beziehungen zwischen dem Menschen und der von ihm konstruierten Welt der Zahlen. "Der zählende Mensch" ist aber auch ein interdisziplinäres Buch, es befasst sich beispielsweise auch mit dem Fragenkomplex, der sich um das Bewusstsein rankt, es behandelt Themen wie Entwicklungspsychologie, Biologie, Medizin, Physik, Informatik, Philosophie und so weiter. Aus dieser fächerübergreifenden Vielschichtigkeit resultiert meines Erachtens aber auch ein gewisses Manko des Buches, denn das Ganze erscheint mir doch ein wenig unsortiert, ohne klare Linie. Irgendwie vermisse ich den handfesten Knoten, zu dem der Autor die verschiedenen Fäden seiner Denkansätze hätte knüpfen können.

Nachdem Zimpel zu Anfang seiner Ausführungen das Menschenbild der Ingenieursmathematik grob skizziert hat, stellt er diesem sein Konzept einer Humanmathematik gegenüber. Unter dem Begriff Ingenieursmathematik versteht Zimpel die sich ausschließlich an toten Dingen orientierende Schulmathematik, und er beklagt die Verdinglichung oder Versachlichung des Lebens durch diese Form der Mathematik, ohne natürlich dabei die großen Leistungen und Errungenschaften der Ingenieursmathematik in Abrede zu stellen. Der Autor fordert jedoch eine neue Perspektive. "Die Ingenieursmathematik spiegelt den Menschen aus einer extremen Außenperspektive", so schreibt er und plädiert dafür, dass sich die Mathematik wieder auf ihren pythagoreischen Ursprung besinnt, auf die Philosophie nämlich und damit auch auf den Menschen. Wie er sich das aber genau vorstellt, ist mir nicht ganz klar geworden. Es zielt auf jeden Fall in die Richtung der "Romantischen Wissenschaft" des us-amerikanischen Neurologen und Erfolgsautors Oliver Sacks, auf den Zimpel auch mehrmals Bezug nimmt.

Als wegbereitende historische Beiträge zu einer Humanmathematik, einem mathematischen Verständnis geistiger Prozesse also, wertet Zimpel die Lehren Maria Montessoris, Kurt Lewins und Jean Piagets, auf die er in seinem Buch ausführlich eingeht. Zunächst gibt er seinen Lesern einen geschichtlichen Überblick zur Bedeutung der Zahlen für den Menschen von der Frühzeit bis hin zum modernen Menschen unseres heutigen Informationszeitalters. Danach werden dann die sogenannten Bewusstseinsformeln Piagets, Lewins und Maria Montessoris abgehandelt. Ist die Bedeutung, die Zimpel diesen drei Bewusstseinsformeln beimisst, wirklich so weitreichend, wie er glaubt? Für mich jedenfalls ist das nicht ganz nachzuvollziehen. Auch die Antworten, die der Autor auf die anfangs gestellten Fragen gibt, sind mir zu allgemein gehalten, wie beispielsweise: "Um einer Verdinglichung menschlicher Eigenschaften zu entgehen, benötigen wir eine dynamische Betrachtungsweise." Oder: "Die nicht verdinglichende Art der Entwicklung mathematischer Modelle von Eigenschaften und Prozessen, die mit dem menschlichen Bewusstsein zu tun haben, bezeichne ich als Humanmathematik." Obwohl man dem Autor sicher auch in vielen Belangen zustimmen muss. Aussagen wie "Die Persönlichkeit eines Menschen ist weit mehr als eine Funktion seines Gehirns" oder "Das Leben ist mehr als genetische Information", kann ich nur unterstreichen. Und auch den aus solchen Aussagen abgeleiteten Forderungen mag man gerne vorbehaltlos zustimmen. Ebenfalls unwidersprochen bleibt Zimpels Schlussplädoyer. Dort sagt er: "Es ist an der Zeit, unserem oft zu einseitig technikorientierten Zeitgeist etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Der erste Schritt sind Ermutigungen, wieder mehr auf die geistigen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten jedes einzelnen Menschen zu zählen. Denn was der Mensch gerade aufgrund seiner Begrenztheit, Endlichkeit und Verletzlichkeit alles vermag, ist längst noch nicht ausgelotet."

Kurzum: Möglicherweise stellt Zimpels Buch wirklich den Ansatz einer neuen Betrachtungsweise dar. Es ist ganz interessant und kurzweilig zu lesen, und es ist auch für die nicht durch die Weihen der höheren Mathematik Gesalbten verständlich geschrieben; die rechte Begeisterung wollte jedoch nicht aufkommen.

(Werner Fletcher; 02/2008)


André Frank Zimpel: "Der zählende Mensch. Was Emotionen mit Mathematik zu tun haben"
Vandenhoeck & Ruprecht, 2008. 192 Seiten mit 24 Abbildungen.
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Dr. André Frank Zimpel ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Sonderpädagogik, Schwerpunkt Geistigbehindertenpädagogik, an der Universität Hamburg.

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