Friedrich Hebbel: "Weltgericht mit Pausen"

Aus den Tagebüchern


Aus Friedrich Hebbels Sudelbüchern

"Ich habe in der letzten Zeit viel von Jean Paul gelesen und einiges von Lichtenberg. Welch ein herrlicher Kopf ist der Letztere! Ich will lieber mit Lichtenberg vergessen werden, als unsterblich sein mit Jean Paul!" So lautet ein Eintrag aus den Tagebüchern Friedrich Hebbels. Nun ist Friedrich Hebbel zwar nicht in Vergessenheit geraten, nimmt aber in der Ruhmeshalle der deutschen Literatur nicht den prominenten Rang ein, den Lichtenberg und Jean Paul dort innehaben. Alfred Brendel, Pianist von Weltrang und ebenfalls Autor, unternimmt mit dieser Textauswahl aus Hebbels Tagebüchern den Versuch, dem ein wenig abzuhelfen und Hebbel einen höheren Rang zuzuweisen. Und dazu scheinen ihm gerade die Tagebücher am besten geeignet. In Brendels Worten: "Dass hier die originellste Leistung des Autors Hebbel liegt, möchte diese Auswahl erweisen." Hebbel selbst hat dies offenbar ganz anders gesehen. Denn auf Seite 110 dieser Ausgabe wird er wie folgt zitiert: "Im Allgemeinen haben meine Tagebücher freilich sehr geringen Wert: Zustände und Dinge kommen kaum darin vor, nur Gedanken-Gänge, und auch diese nur, soweit sie unreif sind."

Der Rezensent ist eher geneigt, sich der Ansicht Alfred Brendels anzuschließen, wenn auch meine persönliche Auswahl der Texte wohl etwas anders ausgefallen wäre. Der Herausgeber, der die Tagebücher vor Jahrzehnten in einem Wiener Antiquariat erworben hat und auf Anhieb " elektrisiert" war von Hebbels Texten, hat seine Auswahl für diese Neuausgabe in fünf Sparten, und da jeweils in chronologischer Reihenfolge, angeordnet. Diese fünf Sparten beinhalten "Aphorismen, Meinungen, Behauptungen"; "Kuriosa, Grotesken, Beobachtungen"; "Träume"; " Persönliches"; sowie Texte "Zu Literatur und Theater". Ein ausführliches Nachwort Alfred Brendels beschließt die Auswahl der Texte.

Man kann weite Teile aus Hebbels Tagebüchern tatsächlich mit den "Sudelbüchern" Lichtenbergs vergleichen, und Hebbel selbst beruft sich ja auch auf Lichtenberg, den er in gewisser Weise wohl als nachahmenswertes Vorbild angesehen hat. Wie bei Lichtenberg finden sich bei Hebbel geistreich pointierte Aphorismen, oftmals sogar rein fragmentarischen Charakters, aber fast immer mit einem ihm eigenen schwarzen Anstrich von Humor. Beispiel: "Es ist am Ende an der Religion das Beste, dass sie Ketzer hervorruft." Oder: "Die Natur hat mit dem Menschen in die Lotterie gesetzt und wird ihren Einsatz verlieren." Auch seine Alltags-Beobachtungen, die sich in der zweiten Rubrik dieser Auswahl finden, treffen häufig ins humorig Schwarze: "Ein Mensch, der so hässlich ist, dass jede Grimasse, die er zieht, ihn schöner macht." Den Träumen, die auch lediglich acht Seiten in dieser Auswahl einnehmen, wird der Leser vermutlich weniger abgewinnen können als den Texten aus den anderen Sparten. Persönliches wie beispielsweise die persönliche Werteinschätzung seiner eigenen Tagebücher findet sich im vierten Teil von Brendels Auswahl. Hier kommt der Tagebuchcharakter der Aufzeichnungen am deutlichsten zum Tragen, es fehlt hier auch die aphoristische Kürze und Bündigkeit, hier bestimmen längere Textpassagen das Bild. Im letzten Teil des vorliegenden Bandes geht es schließlich um die Themen Literatur und Theater, dem eigentlichen Metier Hebbels. Interessant hier, was er als die letzte und höchste Aufgabe der Poesie ansieht: "Ich kann mir eine humoristische Weltgeschichte denken, aber nur das größte Genie kann und wird sie schreiben. Es ist die letzte Aufgabe der Poesie."

Wer den Bühnendichter Friedrich Hebbel also von einer anderen Seite kennen lernen möchte, von der Seite eines zynisch angehauchten Beobachters und Aphoristikers, dem sei diese von Alfred Brendel edierte Auswahl empfohlen, denn er wird hier so manchen gedanklichen Schatz heben können. Es lohnt sich allemal, sich dieses Buch zuzulegen.

(Werner Fletcher; 08/2008)


Friedrich Hebbel: "Weltgericht mit Pausen"
Aus den Tagebüchern. Auswahl und Nachwort von Alfred Brendel.
Herausgegeben von Alfred Brendel.

Hanser Verlag, 2008. 176 Seiten.
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Alfred Brendel, der weltberühmte Pianist, wurde 1931 in Wiesenberg / Nordmähren geboren. Er veröffentlichte musikalische Schriften und mehrere Gedichtbände. Bei Hanser erschienen zuletzt "Ausgerechnet ich" (Gespräche mit Martin Meyer, 2001) und "Spiegelbild und schwarzer Spuk" (Gesammelte und neue Gedichte, 2003).

Friedrich Hebbel, 1813 in Wesselburen / Dithmarschen geboren und 1863 in Wien gestorben, ist u. a. berühmt als Autor des bürgerlichen Trauerspiels "Maria Magdalene".

Weitere Lektüreempfehlungen:

Alfred Brendel: "Über Musik. Sämtliche Essays und Reden"

Alfred Brendels Buch ist ein brillantes Kompendium der Klaviermusik und zeigt, dass der weltberühmte Pianist auch ein glänzender Stilist und Analytiker ist. Es enthält alle seine viel gerühmten Texte zur Musik in einer überarbeiteten und erweiterten Ausgabe. Ob sich der große Pianist als Mozart-Spieler selbst ermahnt, über lustige Musik sinniert und Werke von Bach, Beethoven, Schubert, Schumann, Liszt, Busoni oder Schönberg beleuchtet - Brendel tut das, worüber er schreibt: Er denkt über Musik nach. (Piper)
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Alfred Brendel: "Ausgerechnet ich. Gespräche mit Martin Meyer"
In seinem siebzigsten Jahr hat sich der weltberühmte Pianist Alfred Brendel den Fragen Martin Meyers gestellt und erzählt - von seinem Leben, seiner musikalischen und literarischen Arbeit. Er spricht über seine Lehrjahre, seine Konzerte und Schallplattenaufnahmen, über die ihm wichtigsten Kompositionen, über Fragen der Interpretation und schließlich über sein Schreiben. (Piper)
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Alfred Brendel: "Spiegelbild und schwarzer Spuk"
Gedichte.
Der Pianist als Dichter: Mit seinen komischen und grotesken Versen baut Alfred Brendel eine luftige Brücke zwischen Sinn und Unsinn. So wird bei ihm Beethoven (der, was auch ziemlich unbekannt ist, ein Neger war) als Mörder von Mozart entlarvt oder die bewegende Frage erörtert, was geschah, als Brahms sich in den Finger geschnitten hatte. In Brendels Gedichten - von denen sämtliche in diesem Band versammelt sind - kommt alles und jeder zur Sprache, sogar ein Speckschwein, das am Telefon grunzend seine Lebensgeschichte erzählt. (Hanser)
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Alfred Brendel: "Nach dem Schlussakkord. Fragen und Antworten" zur Rezension ...

Susanne Bienwald: "Friedrich Hebbel und Hamburg. 'Lauter zerrissene Verhältnisse'"
Ein ungehobeltes Genie in der bürgerlichen Gesellschaft. Mit sicheren Strichen zeichnet Susanne Bienwald das Lebensdrama Friedrich Hebbels in Bezug auf Hamburg nach. Was so entsteht, ist nicht nur ein lebendiger Lebenslauf dieses großen Dramatikers, sondern das Zeitbild einer Stadt, das erstaunlich weit in die Gegenwart hineinreicht. Hamburg war die große Hoffnung des angehenden Dichters. Doch als ihm der Sprung aus der Enge und Armut Wesselburens in die Stadt seines Sehnens endlich gelungen war, war die Enttäuschung groß: Er blieb weiter vor den Toren der Gesellschaft - zu frei und unkonventionell war sein Leben, zu rücksichtslos waren seine literarischen Kritiken. Susanne Bienwald schildert die späten Anfänge des 22-Jährigen am Johanneum, die schwierige Liebe zu Elise Lensing und die konfliktreiche Beziehung zur Mentorin Amalie Schoppe. Sie zeigt die zwangsläufige Spannung zwischen dem ungehobelten Genie und der bürgerlichen Gesellschaft auf und beschreibt Hebbels lebenslanges Ringen mit dem großen Hamburger Verleger Julius Campe. (Hoffmann und Campe)
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Andrea Stumpf: "Literarische Genealogien. Untersuchungen zum Werk Friedrich Hebbels"
Im Werk Friedrich Hebbels arbeitet eine Macht des Heterogenen, die an der Gestalt seiner Texte immer wieder das Fragmentarische, eine hyperbolische Bildlichkeit oder einen rohen Materialismus hervortreibt. Diese Figuren sind als eine Art literarischer Genealogie zu verstehen, als eine genealogische Erkundung im nietzscheschen Sinne, die mit auflösender Kraft in die Begründungsverhältnisse von Macht, Wertsetzungen und Repräsentationen eindringt und sie von der Seite ihres Werdens, ihres Zerfalls und ihrer Ereignishaftigkeit vor Augen führt. Hebbel lässt sich damit als ein Protagonist von macht- und geltungsanalytischen Fragestellungen des 19. Jahrhunderts verstehen, der die genealogische Frage auch an die Form der eigenen Texte richtet und deren Kohärenz preisgibt. Die Untersuchung einzelner Themenkomplexe - Körperlichkeit, Tausch- und Deutungsprozesse etc. - beziehen neben den Dramen auch Hebbels weitgehend vernachlässigten Prosatexte und das Tagebuch mit ein. (Königshausen & Neumann)
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Leseprobe:

Einleitung

Unter den schönen, wichtigen, kuriosen und überflüssigen Büchern, die meine Bibliothek beherbergt, sind Hebbels Tagebücher etwas Einzigartiges: Sie sind dies  alles auf einmal. Es entfaltet sich darin das Panorama einer genialen Persönlichkeit, die vom Großartigen bis ins Fragwürdige reicht, ein Gesamtbild, das in solcher Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit seinesgleichen sucht. Von Tagebüchern des üblichen Zuschnitts ist hier kaum mehr zu reden: Peter von Matt hält Hebbels Version dieser Gattung geradezu für eine eigene Kunstform, und zwar jene, in der er seiner Zeit am weitesten vorauseilte. Dass sie auch Überflüssiges, Überholtes, allzu Zeitgebundenes mit einschließt, schmälert nicht die erstaunliche Originalität eines Unternehmens, das den Rahmen eines Dokuments nach allen Richtungen sprengt.

Als mir vor Jahrzehnten Hebbels Tagebücher in einem Wiener Antiquariat in die Hände fielen, hatte ich von ihm die Vorstellung eines etwas verkrampften Grüblers, eines Bühnendichters, dem die Welt als unrettbar tragisch galt, eines eher zerebralen Lyrikers und ästhetischen Dogmatikers - eine Vorstellung, die mir, dem Shakespeare- und Nestroy-Verehrer, den Umgang mit Hebbel nicht gerade aufdrängte. Mit seinen Tagebüchern entdeckte ich einen ganz neuen Autor, der mein Herz und Hirn im Nu elektrisierte.

Ich hatte bereits Lichtenberg mit Entzücken gelesen und das Theater Becketts und Ionescos als etwas Ersehntes und Erwartetes begrüßt. Zumal in den kürzeren, fragmentarischen Eintragungen erschien mir Hebbel nun wie ein Brückenschlag vom Göttingen des 18. Jahrhunderts in meine eigene absurde Gegenwart. Ich erlebte das "Gefühl, als ob Dinge emportauchten, die im Chaos steckengeblieben sind" [Tagebücher 5906]. Was hier zum Vorschein kommt, sind Momente schärfster Klarheit, aber auch solche, die sich traumhaft ihren Weg aus dem Unbewussten gebahnt haben.

Wenn Lina, die Haushälterin meines Lehrers Edwin Fischer, nach dem Besuch eines meiner Konzerte bei mir im Künstlerzimmer erschien, freute ich mich schon darauf, dass sie sagen würde: "Schön haben Sie gespielt, Herr Brendel - auch die schönen Stellen!" Nun hat das, was von Frau Gerlieb als "schöne Stellen" wahrgenommen wurde, innerhalb der musikalischen Architektur eines Beethoven-Konzerts einen anderen Stellenwert als die schönen (kuriosen, verrückten, besonderen) Stellen im Konglomerat von Hebbels Diarium. Sie aus dieser zufälligen Anhäufung herauszugreifen, schien mir legitim und wünschenswert. Die Anordnung in Aphoristisches, Kurioses, Träume, Privates und Literarisches ergab sich gleichsam von selbst. Die Reihenfolge ist jeweils chronologisch.

Ich bitte den Leser nun, sich auf Hebbels "beschneites Feuerwerk" einzulassen. Die Begegnung soll so unmittelbar wie möglich ausfallen. Weitere Auskünfte und Hinweise gibt dann das Nachwort. (...)

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