Jan Böttcher: "Nachglühen"


Verrat und Schuld als Prüfsteine einer Freundschaft

Stolpau ist ein Dorf an der Elbe, vierzig Jahre lang hat es zum Sperrgebiet an der Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik gehört. Nach dem Mauerfall wurde es wieder ins Land Niedersachsen eingegliedert.

Die DDR-Zeit hat bei den Bewohnern manche Wunden hinterlassen; im Schatten der mächtigen Wachtürme, umgeben von Minen lebt es sich nicht gerade unbeschwert.

Jo Brüggemann und Jens Lewin sind unmittelbar nach der Wende als junge Burschen fluchtartig in den Westen gegangen, als könnten sie die Vergangenheit abschütteln. Nach vielen Jahren kehren sie zurück: Jo, mittlerweile Polizist, pflegt seinen bettlägerigen Großvater, Jens hat die Gaststätte seiner Eltern übernommen. Eigentlich ist Jens Journalist; seine Frau Anne, fasziniert von Stolpau, hat ihn gedrängt, seinen Eltern unter die Arme zu greifen. Doch Anne stammt aus dem Westen und kennt Stolpaus unheilvolle Geschichte nicht. Vor allem jedoch weiß sie nichts über die Ereignisse, die Jens und Jo miteinander verbinden - oder sie vielmehr unüberwindbar trennen.

Dann freundet sich Anne mit Jo an und ahnt, dass die früheren Freunde ihr etwas Bedeutendes verschweigen. Ihre Versuche, mit Jens zu sprechen, führen nur zu zunehmender Entfremdung zwischen den Eheleuten; Jens wirkt seit der Ankunft in Stolpau, als sei er sämtlicher Energie beraubt. Die Situation droht zu eskalieren, und Anne, zwischen die Fronten geraten, muss rasch handeln, um nicht selbst zugrunde zu gehen.

Der Leser lernt in diesem Roman eine Reihe sehr skurriler, hoffnungslos in ihre persönliche Vergangenheit verstrickter Charaktere kennen. Sie haben sich ihre Fesseln selbst angelegt, freilich unter dem Druck eines diktatorischen Regimes, das dem Einzelnen keine Freiräume zugestand, wie vor allem junge Menschen sie benötigen. Ein solcher Druck kann Verrat erzeugen, wenn das Rückgrat des Einzelnen nicht außergewöhnlich stabil ist. Das erfahren auch die beiden Jugendlichen Jens und Jo Mitte der Achtzigerjahre. Jens hat bereits für seine kleine Aufführung eines selbst geschriebenen, regimekritischen Theaterstücks ein paar Monate "gesessen", als Jo sich ihm, dem Helden, anschließt. Die beiden hecken einen kühnen Plan aus, um die Grenzsoldaten vorzuführen. Es kommt zur Katastrophe.

Bindeglied zwischen diesen beiden Protagonisten ist Anne, Jens' völlig unvorbereitete und hoch motivierte Frau, die in diesem Roman zu ihrer eigenen Überraschung rasch an unüberwindliche Grenzen stößt. Dass sie und Jo sich näher kommen, muss zwangsläufig zum Konflikt führen.

Die Charaktere dieses Romans sind klar und nüchtern gezeichnet, Menschen mit Ecken und Kanten und einem düsteren Geheimnis, das erst nach und nach gelüftet wird. Es ist dem Autor vorzüglich gelungen, ein Stück Sperrgebiets-Vergangenheit in den Charakteren widerzuspiegeln, eingebrannt in die Persönlichkeiten der beiden Männer, die verzweifelt versuchen, einer direkten Begegnung auszuweichen, und den Kontakt doch nicht vermeiden können, zumal sie dieselbe Frau lieben.

Aus wechselnder Perspektive, in schlichter, kraftvoller Sprache, ganz dem rauen Ambiente angemessen, entwirft Jan Böttcher eine sich langsam und unentrinnbar entwickelnde Tragödie von großer und schmerzlicher Aktualität.

(Regina Károlyi; 03/2008)


Jan Böttcher: "Nachglühen"
Rowohlt Berlin, 2008. 256 Seiten.
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Jan Böttcher, 1973 in Lüneburg geboren, lebt als Autor und Liedermacher in Berlin. Nach einem Studium der deutschen und skandinavischen Literatur arbeitet er auch als Werbetexter, Herausgeber und Veranstalter von Lesungsreihen. Im Jahr 2003 erschien sein literarisches Debüt "Lina oder: Das kalte Moor", 2006 der Roman "Geld oder Leben". Mit der aus dem aktuellen Romanstoff hervorgegangenen Erzählung "Freundwärts" gewann Jan Böttcher beim "Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb" 2007 den "Ernst-Willner-Preis".

Ein weiteres Buch des Autors:

"Geld oder Leben"

Karl ist 21 und vorbestraft, weil er seine eigene Mutter an ihrem Sparkassenschalter überfallen hat. Nicht aus Gier - Karl kann mit Geld wenig anfangen -, sondern in der liebevollen Absicht, sie von ihrer akuten RAF-Phobie zu heilen. Nun fährt er in einem VW-Bus, der ihm nicht gehört, von der Lüneburger Heide nach Brandenburg: zur Beerdigung seines Großvaters, einst selbst als Hausmeister bei der Sparkasse angestellt, der aus dunklen Gründen in die DDR floh. Karl, damals noch ein Kind, will die Rätsel endlich lösen. War sein Großvater wirklich ein Informant des Verfassungsschutzes? Seine Suche führt Karl in die tragikomische Vergangenheit einer Familie zurück, deren Schicksal untrennbar mit der Modernisierung der heimatlichen Sparkasse verknüpft bleibt. Sie führt ihn aber auch in die Arme der schönen Sozialarbeiterin Nane, die mehr über seinen Großvater zu wissen scheint, als sie preisgeben möchte ... (Rowohlt)
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