(...) Madrid ist keine altspanische Stadt wie Toledo, Ávila oder Segovia, wo jede kleine Gasse ihren Zauber und eine lange Geschichte hat. Madrid ist vielleicht die am wenigsten spanische Stadt, sieht auf den ersten Blick gar nicht wie Spanien aus, aber "wenn man es erst wirklich kennt, ist es die spanischste aller Städte, die beste zum Leben, mit den großartigsten Leuten", behauptete Hemingway. "Nur in Madrid findet man die Essenz." Oder einen Querschnitt aus allen Provinzen. Als Philipp II. 1561 auf die Landkarte sah und erkannte, daß die Peripherie blühend war, das Zentrum des Landes aber wüst und leer, tippte er mit dem Finger auf die Mitte und sprach: "Hier laßt uns Paläste bauen." So stellt es sich jedenfalls unser Enzensberger vor, ich sage unser, denn wir haben ihm vor kurzem einen unserer höchsten Preise verliehen, ihn gewissermaßen adoptiert. Als Madrid zu Ungunsten, aber wohl nicht zum Schaden Toledos Hauptstadt wurde, zählte es gerade mal dreitausend Einwohner; heute sind es drei Millionen, mit den Schlafstädten der Umgebung rund fünf Millionen. Es war ja nur eine vorgeschobene Bastion des islamischen Toledo gewesen und ist seitdem nicht viel gewachsen. 1495 berichtete Hieronymus Münzer aus Feldkirch in Vorarlberg seinem Kaiser Maximilian, Madrid sei so groß wie Biberach. Noch Borrow fand im 19. Jahrhundert Madrid nicht viel größer als Norwich. Aber schon damals hatte es Zulauf aus den Provinzen. Vielleicht ist die Stadt deshalb in ihren Vierteln oft überraschend provinziell. Und zum Teil existiert auch noch das alte Madrid, hier zwischen der Arenal und der Calle Mayor zum Beispiel und jenseits der Hauptstraße das Dorf der Mancha mit seinen Tavernen, Seilereien, Lederflaschenhandlungen, Wachsziehereien, Tuchgeschäften und Uniformschneidereien. Aber kommen Sie, wir trinken noch einen Kaffee draußen vor dem Café de Oriente, da können wir über den Platz zum Schloß hinüberblicken und das Leben vorüberziehen sehen. Café con leche, Café solo, Café helado, ein Cortado?

Haben Sie je einen höheren Himmel gesehen? Der Himmel von Madrid sei der schönste der Welt, schwärmte Madame d´Aulnoy. Die Bauwerke könnten ebensogut in Buenos Aires stehen, meinte Hemingway, aber gegen diesen Himmel betrachtet könnten sie nur in Madrid stehen. Vor nun fast einem halben Jahrhundert hatte ich die Ehre und das Vergnügen, Wolfgang Koeppen Gesellschaft zu leisten, später schrieb er: "Schwindelerregend, unwahrscheinlich hoch, klar und blau ist der Himmel über Madrid, und wie Champagner schmeckt die Luft, wenn sie am Abend der kühle, trockene Wind von den Guadarramabergen bewegt." Nun, das mit dem Champagner ist übertrieben. Tatsache ist, daß die Puerta del Sol sechshundertvierundfünfzig Meter über Meer liegt und Madrid die höchstgelegene Hauptstadt Europas ist. Das Licht ist so klar, die Luft so dünn, rein, jungfräulich, farblos, durchsichtig, fein, aristokratisch wie auf den Bildern Velázquez´. Das Kobaltblau und Rot des Sommerhimmels, das metallische Kaltblau des Winters sind wie die Blaus und das Rosa Velázquez, nicht wahr? Don Friedrich Schiller, den wir wegen seiner Balladen sehr, wegen des Don Karlos weniger schätzen, kam leider nie nach Madrid, und nur so ist es zu erklären, daß er die Sache mit dem Himmel falsch verstanden hat: "Schwer liegt der Himmel zu Madrid auf mir, wie das Bewußtsein eines Mordes. Nur schnelle Veränderung des Himmels kann mich heilen." Als wäre es ein tiefer, düsterer, keineswegs heiterer Himmel.

"Nichts geht über Madrid, außer dem Himmel", heißt ein Sprichwort. Nun sind wir Spanier, woher wir auch stammen, ja ausgeprägte Lokalpatrioten, aber wir Madrilenen besonders. Die größte Strafe für einen Madrilenen, das erkannte Richard Ford ganz richtig, besteht darin, aus Madrid verbannt zu werden; ein Exil in der Alhambra von Granada zum Beispiel käme der Verbannung in eine Strafkolonie Australiens oder Sibiriens gleich. Umgekehrt ist Madrid der unwiderstehliche Magnet für alle, die ihr Glück machen wollen, Fluchtpunkt aller Ambitionen, Ziel aller Sehnsucht; wer in der Provinz bleibt, fühlt sich in der Regel isoliert. Madrid ist die große Spinne, die alle in ihr Netz lockt, ist Mythos und Moloch, Himmel und Hölle, aber Himmel vor und nach allem, der Himmel auf Erden. Und von Madrid ist es nur ein Schritt ins Reich der ewigen Seligkeit, nur ein Katzensprung "de Madrid al cielo", wie es heißt, obgleich der Himmel über Madrid so hoch hängt. Dort oben sind Fenster, durch die wir Madrilenen, zu Engeln geworden, auf das irdische Paradies, auf unser Madrid schauen. Wie wär´s mit etwas Gebäck zum Kaffee, "Engelshaar" zum Beispiel?

Madrid, der Hof, die Hauptstadt, der Mittelpunkt der Welt zeitweise - so sahen wir es jedenfalls -, zog natürlich vor allem auch unsere Dichter an. Hier haben sie fast alle gelebt, viele haben über Madrid geschrieben, und einige der literaturgeschichtlich wichtigsten Werke spielen in Madrid. Madrid ist seit Jahrhunderten das literarische Zentrum des Landes, die Hauptstadt der spanischen Literatur, die ihrerseits zum großen Teil Madrider Literatur ist. Ein literarischer Spaziergang durch Madrid wird so zu einer Wanderung durch die spanische Literaturgeschichte der Neuzeit. Lassen Sie uns ein wenig durch die spanische Literatur schlendern. Morgen treffen wir uns auf der Plaza de España am Ende der Gran Vía, wenn es Ihnen recht ist. Dann gehen wir auf die Suche nach Cervantes. Auf morgen also. Hasta mañana. (...)


(aus "Madrid. Zeitreise in die spanische Literaturmetropole" von Rolf Neuhaus und Jesús Serrano)
Kaum ein spanischer Autor von Rang, der nicht zwischen Prado und Puerta del Sol, Palacio Real und Plaza Mayor, Gran Vía und Rastro, Retiro und Escorial gelebt hat. Von Cervantes, Lope de Vega, Calderón de la Barca, Quevedo und Góngora bis zu Bécquer, Galdós, Unamuno, Azorin, Baroja, Valle-Inclán, den Brüdern Machado, Juan Ramón Jiménez, Lorca, Alberti, Aleixandre, Cela, Muñoz Molina und Javier Marías zog es fast alle Schriftsteller (wenigstens zeitweise) nach Madrid, wo sie viele der besten Werke spanischer Sprache schrieben, die nicht nur ihre jeweilige Zeit widerspiegeln, sondern oft auch die Stadt porträtieren.
Selbstverständlich übten das Theater des Siglo de Oro, der Schelmenroman, die Lyrik des Silbernen Zeitalters große Anziehungskraft auf Dichter anderer Nationalität aus, so auf Goethe, Schiller, Heine. Und viele besuchten die Hauptstadt der spanischen Literatur, unter ihnen Hugo, Gautier, Dumas, Andersen, Darío, Dos Passos, Hemingway,Carpentier, Neruda, Paz, Malraux,Brecht, Enzensberger ... kommen Sie, gehen auch wir auf Spurensuche. (Klett-Cotta)
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