Frances Hodgson Burnett: "Der geheime Garten"


Von Kindern lernen

Mary, ein kratzbürstiges kleines Mädchen, als Tochter eines britischen Offiziers in Indien geboren, wo sie auch die ersten Lebensjahre verbringt, kommt aufgrund einer Cholera-Epidemie, die ihre ganze Familie dahinrafft, in die Obhut eines etwas wunderlich wirkenden Onkels nach Yorkshire, England. Dort, auf dem Gutshaus des Onkels, macht Mary eine überraschende Wandlung durch. Aus einer hässlichen, übellaunigen, desinteressierten, verschlossenen Göre erblüht ein wunderschönes, fröhliches und für alle Dinge und Menschen aufgeschlossenes Mädchen. Und ihre Anteilnahme gilt gleichermaßen den Tieren und Pflanzen, denen auch eine besondere Rolle in Marys Entwicklung zukommt. Denn ein versteckter, seit Jahren vernachlässigter und verwilderter Garten, der geheime Garten, ist es, der das Mädchen aufblühen lässt. Und vor allem ein Junge aus der Nachbarschaft, Dickon, der offenbar die Sprache der Tiere versteht, mit Vögeln, Füchsen, Eichhörnchen und sogar Pflanzen kommunizieren kann und der sich der kleinen Mary in ihrer neuen Umgebung annimmt. Er lehrt sie erstaunliche Dinge. Zunächst einmal, sich selbst zu akzeptieren, sich selbst anzunehmen als Voraussetzung dafür, dass man von Anderen akzeptiert und geliebt wird. Mary empfängt durch ihre Freundschaft mit Dickon allmählich so viel Kraft, dass sie schon bald imstande ist, diese Kraft an Andere weiter zu geben, an ihren Vetter, der auch auf dem Gut lebt, doch quasi eingekerkert in ein Schneckenhaus der Ich-Bezogenheit und Hypochondrie. Dieser Vetter, Colin, erblüht nun seinerseits durch den magischen Zauber eines zehnjährigen Mädchens zu neuem Leben. Aus der einstigen Kratzbürste ist also eine wohltätige kleine Fee geworden.

Parallel zu diesen Entwicklungen wird auch der geheime Garten wieder kultiviert, zunächst von Mary und ihrem Freund Dickon, später von allen drei Kindern. Dieser verwilderte geheime Garten ist sicher auch Sinnbild für die inneren Anlagen eines Menschen. Jeder hat seinen eigenen inneren Garten zu kultivieren, und zwar durch Liebe. Von Kindern zu lernen, lieben zu lernen, mit Kinderaugen die Natur sehen, das scheint mir die zentrale Botschaft dieses Buches, des vermutlich gelungensten Buches von Frances Hodgson Burnett, deren bekanntestes Werk "Der kleine Lord" nicht an die inhaltliche Tiefe des "Geheimen Gartens" heranreicht. Ein eindrucksvolles Plädoyer für die Liebe und für das Lachen stellt diese zauberhafte Geschichte dar.

"Menschen, Tiere und Pflanzen muss man lieben, damit sie gedeihen können. Das ist das Einzige, was man für sie tun kann. Und Lachen ist besser für Kinder als alle Pillen."

Dies gilt nicht nur für Kinder. Und ebenfalls nicht nur für Kinder (ab etwa zehn Jahren) lesenswert ist dieses Buch. Auch "jung gebliebene Erwachsene jeden Alters", wie auf der Rückseite formuliert, werden sich an der einfühlsam erzählten Geschichte erfreuen können. Und trotz des märchenhaften Charakters der Erzählung wirken die Personen darin recht glaubhaft, lebensnah. Mir hat die Lektüre nach anfänglichen Bedenken viel Spaß gemacht, auch wenn einiges für unsere heutige Zeit vielleicht etwas zu sentimental und frömmlerisch wirken mag. "Großer Gott, wir loben dich" wird beispielsweise von den Kindern im neu erblühten geheimen Garten angestimmt. Das nimmt dem Buch aber nichts von seinem Reiz.

Auf keinen Fall vergessen werden dürfen in einer Besprechung dieser Ausgabe die hübschen und stimmungsvollen Illustrationen von Graham Rust, dem es gelungen ist, den Zauber des geschriebenen Wortes auf absolut überzeugende Weise ins Bild zu bannen.

(Werner Fletcher; 03/2006)


Frances Hodgson Burnett: "Der geheime Garten"
(Originaltitel "The Secret Garden")
Mit Bildern von Graham Rust.
Aus dem Englischen von Friedel Hömke.
Gerstenberg Verlag, 2006. 224 Seiten. (Ab 10 J.)
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Frances Hodgson Burnett wurde am 24. November 1849 in Manchester, England, geboren. Ihre Mutter zog 1865 nach Knoxville, Tenessee um. Frances Hodgson Burnett fing bald darauf an, für Zeitschriften zu schreiben. Ihre erste Geschichte erschien im Jahr 1872 in der Zeitschrift "Scribner". Sie veröffentlichte im Laufe ihres Lebens mehr als 40 Romane und Kinderbücher.  Frances Hodgson Burnett starb am 29. Oktober 1924. "Der geheime Garten" und "Prinzessin Sara" gehören neben  "Der kleine Lord" zu ihren erfolgreichsten Büchern:

"Prinzessin Sara"
"Prinzessin Sara", die Tochter eines reichen englischen Offiziers in Indien, genießt in dem Londoner Mädchenpensionat tatsächlich viele Vorrechte. Doch das ändert sich schlagartig, als die Nachricht vom Tod des Vaters und dem Verlust seines Vermögens die Schule erreicht. Von einem Tag auf den anderen ist Sara gezwungen, sich als Dienstmagd durchzuschlagen ... 
Der Kinderbuch-Klassiker aus dem Jahr 1905 wurde mehrfach verfilmt.
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"Der kleine Lord"
Der siebenjährige Cedric Errol lebt mit seiner verwitweten Mutter in armen Verhältnissen in Amerika. Eines Tages verändert sich sein Leben von Grund auf: Sein Großvater, Graf Dorincourt, holt ihn zu sich nach England, um ihn standesgemäß erziehen zu lassen ...
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