Avtar Singh: "Nekropolis"
Ein wirklich origineller
          und spannender Krimi, aber auch viel mehr.
        
        Avtar Singhs erste im deutschsprachigen Raum erscheinende
        Veröffentlichung "Nekropolis" beginnt gleich mit dem Fund einer gut
        gekleideten, jungen männlichen Leiche, tätowiert und gepierct, die eine
        Kette mit abgetrennten Fingern um den Hals hängen hat. Finger, die ihren
        Besitzern mit Gewalt
        abgenommen wurden. Ein Fall, der die Zeitungen bereits länger
        beschäftigt hat, wie der auktoriale Erzähler den Leser dieses spannenden
        und ungewöhnlichen Kriminalromans gleich auf der ersten Seite wissen
        lässt. Kommissar Sajan Dayal, seines Zeichens auch Deputy
          Commissioner of Police, wird mit dem Fall betraut, und alles nimmt
        seinen Lauf.
        
        Während der Mirza Ghalib zitierende Kommissar sich um die Klärung des
        Falls bemüht, stolpert er quasi in viele weitere Fälle, deren Lösungen
        am Ende dann doch irgendwie mit der Lösung des ursprünglichen Falls zu
        tun haben. Es ist äußerst unterhaltend und spannend, wie Avtar Singh es
        schafft, hier einen roten Faden durchzuziehen.
        
        Der rote Faden bzw. ein ganz wichtiger roter Faden ist eine schöne und
        geheimnisvolle Razia, oder auch Frau "Oberst", wie sie von den
        Nachtmenschen Delhis genannt wird. Hier arbeitet Singh kunstvoll
        mit Klischees, erweckt fast mystische Bilder und kommt sogar mit
        Möchtegern-Vampiren ungestraft davon.
        
        Sein Kriminalroman, der in Delhi spielt, wo Wohngebiete über
        zubetonierten Friedhöfen entstanden sind, weshalb die Stadt auch gerne
        Nekropolis genannt wird, ist nämlich, wenn man hinter die Kulisse von
        Mord- und Totschlag sieht, ein ziemlich genaues Gesellschaftspanorama
        des heutigen Indiens.
        
        Er zeigt auf, was schief läuft, während sich nichtsdestotrotz im Spiegel
        dieser grausamen Fratze ein traditionsreiches Indien zeigt. Dieser
        Gegensatz von Alt und Neu, gepaart mit Avtar Singhs geschliffener und
        auch von Lutz Kliche kongenial übersetzter Prosa, ist auch dafür
        verantwortlich, dass dieser Roman zu einem literarischen Ereignis wird.
        
        Gruppenvergewaltigungen, rassistisch inspirierte Gewalt,
        Kindesentführungen und Korruption auf allen Ebenen sind die
        Ausgangspunkte, die den Kommissar in seine Ermittlungen gegen bösartige
        Minister, afrikanische Drogenhändler, vulgär korrupte Bauherren, Prostituierte
        und ihre Zuhälter führen. So kommt es ganz natürlich, dass man all das
        hier Erlebte durch die Brille der Realität filtert und so über die
        Schablone der in den letzten Jahren medial bekannt gewordenen
        Geschehnisse in Indien legt. Eine Erkenntnis, die sich nach und nach
        immer stärker breit macht, je weiter man in diese Welt eindringt.
        
        Zusätzlich gibt es so etwas wie eine zweite Welt, eine Art
        übernatürliche Welt, immer zusammenhängend mit Razia, die sich, auch
        wenn man versucht, sie von der anderen, realen Welt zu trennen, nicht
        von dieser trennen lässt. Nur durch die Ergänzung dieser Scheinwelt ist
        die Realität möglich, und vice versa.
        
        Und wenn es auch in diesem Roman ein paar kleine Schwächen gibt,
        vielleicht auch ein paar Klischees, die befremdlich wirken, so ist es
        sehr einfach, dem Autor diese zu verzeihen, weil die wirklich
        großartigen Passagen, die starke, unvergessliche Eindrücke vermitteln,
        definitiv in der Überzahl sind. Zu stark ist Singhs erzählerischer
        Duktus, der den üblichen Duktus eines Kriminalromans weit hinter sich
        lässt. Das könnte unter Umständen dazu führen, dass fanatische
        Krimileser von diesem Roman enttäuscht sein werden.
        
        Sehr gelungen ist auch, wie Avtar Singh die Erwartungen des Lesers,
        seine vermeintlich erratenen Schlussfolgerungen, ad absurdum führt und
        "Nekropolis" in einem überraschenden Ende ausklingen lässt.
        
        Absolute Empfehlung, für alle Krimileser und Nichtkrimileser, die sich
        für ein Indien
        interessieren, das weit weg von historisch befrachteter
        Postkolonialromantik an einem Punkt angekommen ist, der nach einer
        tabula rasa verlangt, nach einem Saubermachen, das ein friedliches,
        gewaltfreies und würdevolles Leben aller Einwohner möglich machen
        könnte.
        Große Literatur.
(Roland Freisitzer; 10/2015)
Avtar Singh: "Nekropolis"
        (Originaltitel "Necropolis ")
        Aus dem Englischen von Lutz Kliche.
        Unionsverlag, 2015. 267 Seiten.
         Buch bei amazon.de bestellen
Avtar Singh wurde 1972 in
        Amritsar (Nordindien) geboren. Er studierte Englisch und Philosophie
        in Kalifornien, kehrte 1996 nach Indien zurück und lebte in Mumbai
        und Goa. Er arbeitete bei verschiedenen Zeitschriften und ist
        Chefredakteur von "The Indian Quarterly", einem führenden Kunst- und
        Kulturmagazin in Indien.
        
        Noch ein Buchtipp:
          
          Steve McCurry: "Indien"
        Steve McCurry nimmt den Betrachter mit auf eine unvergessliche Reise ins
        exotische Herz Indiens. Ein stimmungsvoller Bildband für Reisende,
        Träumer und Liebhaber des indischen Subkontinents.
        Der legendäre "Magnum"-Fotograf Steve McCurry versteht es meisterhaft,
        die wilde Schönheit und die starken Gegensätze des Subkontinents in
        fesselnden Aufnahmen festzuhalten. Egal ob in den belebten Gassen von
        Neu-Delhi, beim bunten Ganesh-Festival in Mumbai oder auf den
        Blumenmärkten in Kaschmir - stets gelingen ihm faszinierende
        Momentaufnahmen von Menschen in ihrer alltäglichen Umgebung. Zu Indien
        fühlt sich McCurry seit jeher hingezogen: Das Land bereiste er schon zu
        Beginn seiner Karriere in den 1970er-Jahren. Seitdem kehrte er unzählige
        Male zurück.
        Dieser großformatige Bildband mit 96 seiner schönsten und
        beeindruckendsten Aufnahmen wird ergänzt durch einen einleitenden Essay
        des Autors und Indienkenners William Dalrymple. (Prestel)
         Buch bei amazon.de bestellen