Satan

Der Erbe des toten Gottes

Aus volltrunkenen in sich gewühlten Wolkenbasteien prasselte purpurroter Leibessaft auf die verdörrte Erde herab. Der Himmelsleib zuckte in schmerzlichen Krämpfen, und Schreie der Qual donnerten durch die Welten der Irdischen. Aus unzähligen Bächen schwellten die Gewässer an und die Erde färbte sich in blutigem Rot, doch Gott hielt inne, brüllte und tobte, doch es ward angenehm warm und die Wassermassen verliefen und verdampften sich. Nie wieder werde er die Menschenwesen in einer Sintflut ertränken, war einst sein Schwur gegenüber den Nachkommen des Noah gewesen. Der Mensch ward frei sich zu entscheiden zwischen Gut und Böse und keine Sühne werde ihm dafür zur Strafe für Gott ungefällige Taten auferlegt. Nun lag Gott im Sterben, da er des Daseins eines Unsterblichen leid geworden war. Leer und öde waren die Erdentage geworden, seitdem der Geist des fernen Gottes seine Geschöpfe verlassen hatte. In transzendenter Ferne war er verharrt, verbannt und trauernd um sein sich ihm entfremdendes Schöpfungswerk, ... freilich ein Werk übermütiger Momente war es gewesen, doch die Hirngeburt eines liebenden Gottes. Gott unter Göttern wollte er sein, nicht mehr, doch auch nicht weniger als dieses. Sein Geist wollte nicht mehr allein über den Dingen schweben und zu sich selber sprechen. Seine Liebe wollte nicht mehr in sich gekrümmt sein und sich selbst wärmen. In ihm war Zeit, denn er war die Zeit. Und aus der Zeit sollten neue, wunderliche, ihm vergleichbare Geschöpfe heraustreten und ihm gleichwertige Gesellen werden. So war es ihm der Wunsch und so plante er die Schöpfung. Aus Erde schuf er ihre Leiber und fügte ihnen ein göttliches Wesen hinzu, das sie befähigte zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und in ihrem Tun und Lassen zwischen Gut und Böse zu wählen. Doch wieder und wieder hatten sie seinen geschundenen Sohn ans Kreuz genagelt, jeder Auferstehung von den Toten war seine umgehend neuerliche Tötung gefolgt. Und dann war das Unerhörte geschehen, der Sohn des einen Gottes war in sich zusammengebrochen, war nicht mehr von den Toten auferstanden. Und sein Heiliger Geist, der in allem Gottesfürchtigen wirkte, war vereinsamt und verflüchtigte sich in einer Welt abgewandter Gemüter, hatte sich zuletzt ins Gestein verkrochen. Unversehens war aus seiner heiligen Dreifaltigkeit eine verlorene Einfaltigkeit geworden, ein einsamer unbekannter Gott, zu dem kein Erdenwesen die Hände im Gebet noch faltete. Längst hatte man sich seiner entledigt und ihn für tot erklärt. Und nun, da Schmach und Pein ihn überwältigten (allzu menschlich war er geworden; allzu göttlich waren die Menschen geworden), legte er sich auf sein Totenbett und verlangte nach seinem treuen Freund, dem Teufel. Dieser kam schon bald, der Kunde vom Siechtum des Herren folgend, in der düsteren Gewissheit als Hinterbleibender ein Erbe anzutreten, welches längst schon das seinige war und ihn doch nur belastete. Einst war er aus den Abgründen göttlicher Schöpfungslust hervorgetreten, um sodann als der große Widerspruch zu Gottes klarem Willen vor die Menschen hinzutreten. Als Verführer zum Bösen, ja als das Böse schlechthin, welches leibhaftig in der Welt die Leugnung der Existenz Gottes betreibt, hatte man ihn seit jeher gefürchtet und gehasst. Doch ward des Teufels Wirklichkeit dieses Zerrbild einer klerikalen Minderheit unter den Erdengeschöpfen nie gerecht geworden, und er trug sein Stigma vor aller Welt mit der Gelassenheit einsichtiger Selbstaufopferung. Hatte er doch immer nur den Menschen ermutigt, sich seines Verstandes zu bedienen, die Welt mit eigenen Augen zu schauen und nicht die Rationalität des Intellekts einem theokratisch verfassten Weltbild unterzuordnen. Des Leibes Lüsternheit hatten seine Lenden gepredigt, derweil eine wohllebige Priesteraristokratie im Namen seines Herren den irdischen Sinnenwesen Keuschheit auftrug. Der unerforschliche Ratschluss Gottes, der göttliche Heilsplan etc, waren Angriffspunkte seiner Lästereien gegen jene gewesen, die seine erklärten Feinde waren, welche sich selbst als Knechte Gottes verstanden und in seinem Namen auf Erden herrschten; Religiöse Riten sind Relikte mythisch-magischer Denkformen, die dem modernen Menschen zutiefst wesensfremd sind, dozierte Satan in tausenderlei Gestalt von allen Kanzeln und Kathedern aufgeklärter Humanität. Wir leben in einer entzauberten Welt, ließ er in die Welt hinaus verkünden, und das Publikum nickte ihm immer öfters bekennend zu. Mit der Stimme der Aufklärung sprach er zu den Menschen, zumal ihre Gottwerdung sein heiliger Auftrag war, und es waren die irdischen Diener seines Herren, deren Pastoralpraxis seine Agitation immer wieder zu aller erst galt: Dumpfes traditionelles Handeln und religiöse Weisungen sind Merkmale einer charismatischen Klerikalbürokratie, der ihr Charisma abhanden gekommen ist. Mit sezierender Schärfe legte er die in dumpfer Halbbewusstheit des jeweils "gemeinten Sinns" verlaufenden Glaubenspraxen der Kirchen offen, die ihren Getreuen kaum noch eine irgendwie geartete Sinnorientierung zu bieten hatten, denen bereits der Himmel über den Häuptern einbrach, derweil sie noch von festen Glaubensgewölben fantasierten. Den magischen Akten der Priester - ihrer Sakramentsgnade - mangelt es längst schon an Heilsgewissheit. Bloße Inszenierung ist der hohle Rest; welch pathetische Unmenschlichkeit! - beklagte der Teufel aus tausend Mündern. Was bleibt, ist das vereinsamte Bedürfnis nach Religion; das frustrierte transzendente Wesen des Menschen, welches den Tod Gottes nur ertragen kann, indem es sich selbst vergöttert. Der moderne Mensch kann nicht aus und ist gefordert, Religion neu zu schaffen; ein Schöpfungsakt, in dem er Gott ähnlich wird, ihn vergisst und übersteigt. Es ist die poetische Tugend der Orientierungslosigkeit, Orientierung aus dem Nichts zu schaffen. Gott ist tot, doch der Mensch wird leben, lautete das Postulat der neuen Zeit. Ziel und Zweck des Menschen ist der Übermensch, der aus den Eingeweiden des verwesenden Gottes heraustritt; als Kind eines toten Gottes. Der Teufel konnte mit seinem Werk zufrieden sein. Erfolgreich war er gewesen, zu erfolgreich, wie er insgeheim meinte. In der Tat hatte sich der Mensch selbst geschaffen und er, der Teufel, war gerade noch Statist seiner eigenen Strebsamkeit gewesen, die ihm entglitten war, und er war im Strom menschlicher Selbstwerdung bald nur noch Mitgetriebener gewesen und hatte sich der naiven Illusion hingegeben, er wäre ihr guter Geist. Zu grausamen selbstherrlichen Gottheiten hatten sich die Menschen gewandelt, denen die Gewissenhaftigkeit ihrer Vorfahren eine Sünde gegen die große Vernunft ihres Leibes zu sein schien. Und nun sollte der Teufel jenes Erbe antreten, welches sein eigenes Werk war? Er sollte eine Schöpfung verwalten und entwickeln, in der sich Gott nicht mehr erkannte und welche Gott nicht mehr erkannte? Eine Schöpfung, die des Teufels war, oder gar schon Menschenwerk? Bedrückt ob des nun Kommenden kauerte der Teufel neben seinem verbleichenden Herren und dieser sprach zu ihm von seinem Überdruss und von dem letzten Auftrag, welchen er ihm, dem Teufel, aufbürden müsse. Nicht zum Guten solle er die Menschheit führen, nein, jede Umkehr fordern wäre weder des Teufels noch der Menschen Art, doch solle er sie leiten hin zu einem Sein im mittleren Maße zwischen Gut und Böse und fortführen von ihrem Sein jenseits von Gut und Böse, weil allein dort seien sie Götter ohne Gott. Er, der Teufel, solle fortfahren der Menschen höheren Sinn zu erleuchten (wie er es immer schon so getan), sie zur Freiheit zu irritieren, doch sollten sie fürderhin Götter des Himmels und nicht weiterhin Götter der Erde sein. So sei ihre Zweckbestimmung und so möge es sein und werden. Fürwahr, der alte Gott lächelte milde, die Menschen hätten eine stärkere Moral als Gott, weshalb Gott nun hinwegscheiden müsse. Seine Güte, die selbst noch das Elend menschlichen Leidens umfasse, sei ihm selbst unbegreiflich geworden. Der glaubenszerstörende Widerspruch zwischen der Not in der Welt und seiner Allmächtigkeit, hatte ihm seine Allmacht zum zynischen Rätsel werden lassen. Ein aller Macht beraubter Gott höre auf, Gott zu sein, führte er dem Teufel aus. Und er zitierte ein altes Wort des Kirchenvater Augustinus: "Der allmächtige Gott könnte in seiner unendlichen Güte unmöglich irgend etwas Böses in seinen Werken dulden, wenn er nicht dermaßen allmächtig und gut wäre, dass er auch aus dem Bösen Gutes zu ziehen vermöchte." Ja, so sei eben die Theologie eines ohnmächtigen, aber gütigen und mitleidenden Gottes, gestand Gott gegenüber dem Teufel sein Desaster ein: Mit der Schöpfung habe er sich für die völlige Freiheit der Menschen und deren alleinige Verantwortung für die Welt entschieden. Seine Beziehung zu ihnen bestehe nur darin, dass er auf sie einwirke, das Gute zu tun, aber er hindere sie nicht, dies zu verweigern und ihre Freiheit zu missbrauchen. Und jetzt sei er es leid auf sie einzuwirken, wo doch sein Geist sich schon verflüchtigt habe. Ein seiner Allmacht beraubter Gott sei schon ein toter Gott. Und ein einsamer, unerhörter Gott sei ein unnötiger Gott. Er müsse nun für immer gehen, habe keine andere Wahl, und der Teufel möge sein Erbe antreten. Der Teufel reagierte auf die Ankündigung baldiger Gottverlassenheit mit Verzweiflung und bat den aus allen seinen Wunden blutenden Herren ihn nicht zu verlassen. Durch seinen Tod werde die Welt aus ihren Verankerungen gerissen und durch die Weiten des leeren Alls taumeln. Könne ein liebender Gott, der Allgütige, solch ein Ungemach verantworten? Doch Gott war längst schon tot und sprach mit verwesenden Worten von teuflischer Gewissensschärfe, die seiner einfältigen Gütigkeit ethisch überlegen sei. Nicht nur des Menschen, auch des Teufels Moral sei der seinigen Moral überlegen, weshalb dieser der würdigere Gott sei. Das nüchterne Eingeständnis der Unfähigkeit, das Rätsel des Leids und des Bösen enträtseln zu können stehe am Ende seiner Existenz. Nichts sei vollendeter als dieser sein Tod. Auch Satan, der getreue Knecht des Herren, könne nicht in die Herzen der Menschen schauen, doch sei er als Leibhaftiger den Göttern der Erde viel ähnlicher, als sie jemals einem himmlischen - transzendenten - Gott ähnlich sein könnten. Seine Allmacht sei dahin, und mit diesem Eingeständnis zerfiel der Leichnam Gottes zu Staub. Als dies geschah, verfinsterten sich die Himmel über allem Irdischen und das klagende Grollen verstummte im Dunkel ewiger Nacht. Der Teufel starrte mit ausdruckslosem Blick auf die Reste des überweltlichen Herren, welcher gleich einem Menschen zu Staub verfallen war. Der leidende, zweifelnde Satan sollte fortführen, woran der Allmächtige gescheitert war? Und das nicht als getreuer Knecht seines Herren, sondern als sein Erbe? Als Erbe eine in ewige Finsternis gehüllte Menschheit, die, ob ihres misslichen Schicksals verbittert, auch dem Satan jede Gefolgschaft verweigern wird. "Gott fühlt sich wohl, aber die Menschheit erstickt", hatte ein dreizehnjähriges Mädchen einmal zu ihrem Bildnis über Gott und die Menschen gemeint, ein Bildnis, welches unter himmlischer Glorie in grauen Farbtönen den Pestatem der Menschheit zeigte, und der Teufel hatte ihr zugenickt und grimmig des fernen, abwesenden Gottes gedacht, dessen heiliger Geist in den Köpfen strenggläubiger Glaubensverwalter verrottete. Hatte Gott doch gar auf die Betonköpfe im Vatikan gesetzt, anstatt auf unverfälschtere Gemüter wie jenes des Mädchens zu hören? O wie weise die Erkenntnis Gottes doch war, der meinte, dass teuflische Ethik der seinigen überlegen sei. Wie wahr, war sie doch von praktischer Vernunft gezeichnet und nicht im Bündnis, sondern im Widerspruch zur irdischen Glaubensbürokratie und deren virtuosen Idealen. Nicht die Stimme des Papstes, vielmehr die Stimme des Mädchens war dem Teufel Ansatzpunkt seines Wirkens auf Erden. Und leibhaftig war er im Jammertal der Erdigen zugegen, nicht nur ferner Sender eines flüchtigen Geistes. So trat der Teufel wieder hinab auf die Erde, hinein in die Götterschwärze gottloser Erdenmenschen und versuchte das Getümmel der Leiber zum Guten und zum Bösen, doch sie horchten seiner nicht. Diese Welt war aller Überweltlichkeiten entzaubert und der Teufel nur noch eine illustre Gestalt aus dem Fundus religiöser Mythen, so tot wie sein toter Herr, ein Kuriosum, den der Volksbrauch zum Kinderschreck Krampus verniedlichte. Der Teufel nahm es mit heiterer Gelassenheit und fuhr fort in seinem Dienst am Gewissen der gottlosen Menschheit, als Lamm Gottes, das er nun war. Nimm diesen Kelch und trinke von meinem Blut ... Und der Tod kam in die Welt und schuf ein Reich von Satans Gnaden. Die Erdigen huldigten seinen Gebeinen und waren darob ergötzt.


(Harald Schulz; 29. März 2002)