(...) »Ich erhob mich und holte die gestrigen Notizen zu den neuen Fällen. Ich mußte die alten Notizen gar nicht nach den Abschnitten lesen, in welche ich die neuen gegliedert hatte, um zu sehen, wie sehr sich jedes wiederholte. Alles hatte, somit, vor drei Jahren begonnen, wenn nicht schon früher. Alles stand in Beziehung zu Hallag, all diese Leute standen in irgendeiner Verbindung zu Hallag, und wenn sie ihm nur für einen Moment etwas anvertraut hatten. Alle siedelten auf unerklärliche Weise aus dieser Welt, jeder auf seine, aber alle auf eine gleichermaßen unbegreifliche Weise und irgendwie ohne Segen.
Da begann sich ein neuerliches Dreieck zu fügen. Sie gingen nicht jeder auf seine Weise, es gibt drei Wege, welche die verschiedenen Leute einschlugen, die Beschreibungen der Tode und der Toten zeigten dies mehr als deutlich. Ar-Razis Enkel, al-Dschunaid und der Kaufmann Sufjan gingen auf dem gleichen Wege und auf dieselbe Weise, sie stellen eine Spitze des Dreiecks oder eine seiner Seiten dar. Sie waren geplatzt, hatten ihre Gestalt verloren, sie haben Hallag also auf die gleiche Weise Glauben geschenkt oder ihn auf die gleiche Art geliebt, oder aber er gebrauchte sie auf gleiche Art und Weise. Sollte es möglich sein, daß ein großer Weiser und Lehrer wie Dschunaid glauben konnte, die Dinge hätten keine Gestalt und auf der Welt sei alles - eins? Ich weiß nicht, ich habe den Mann auch nicht gehörig gekannt, und ich kann nicht wissen, was zu glauben er fähig war, doch ich fürchte, daß er Hallag zumindest für einen Augenblick so zugetan war, wie auch Sufjan und ar-Razis Enkel ihm Glauben schenkten. Oder aber Hallag benutzte ihn wenigstens einen Augenblick lang so wie er auch die anderen gebraucht hatte. Es ist nicht meine Sache, herauszubekommen, was und wie sie ihm geglaubt hatten oder wozu er sie gebrauchte, meine Aufgabe ist es, Ähnlichkeiten aufzudecken und jenen zu finden, der sie auf solch bösen Wegen davonschickte«
»Er schloß die Augen und versuchte, von der Haut her die Erinnerung an Begzadas Körper wachzurufen. Langsam preßte und spreizte er die Finger der linken Hand, konzentrierte sich ganz auf die Kuppen und beschwor die Erinnerung, zurückzukehren, flehte die Haut an, sich wenige Jahre zu verjüngen und zurückzuempfinden - alles umsonst. Mit geschlossenen Augen sucht er ihr Gesicht aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Teil für Teil löste er aus der Erinnerung heraus und legte es eins ans andere wieder zusammen, und erkennt ihre Lippen, er erinnert ihr Haar und ihre Nase, alles könnte er sie ohne den kleinsten Fehler beschreiben, so als würde er sie jetzt ansehen. Doch er sieht nichts. Wie sehr er es in diesem Moment auch brauchte, es gelingt ihm nicht, das Gesicht seiner Frau zu sehen. Mein Gott, wie ist das möglich? Ich liebe sie doch, vielleicht liebe ich sie mehr als damals, da ich mit ihr war, doch nichts von mir erinnert sie, ausgenommen der Verstand.« - sprach eine innere Stimme zu al Mukaffa, als spottete sie über seinen damals blinden Glauben an Verstand und Wissen. Hatte nicht Begzada ähnliches gesprochen? Hatte sie ihn nicht zu überzeugen versucht, nicht alles Wissen liege im Verstand und man könne mit dem Körper und der Liebe mehr wissen und bewahren als mit dem Verstand? Gesagt hatte sie es nicht, aber so sieht es ihr ähnlich und jetzt spricht es zu ihm mit ihrer Stimme. Vielleicht hatte sie es doch gesagt, aber er erinnerte sich nicht, wann. Er stand auf und ging, um Rustem zu suchen. Sollte der ihm von Begzada erzählen (...)


(aus "Der östliche Divan" von Dzevad Karahasan
Aus dem Bosnischen (Serbokroatischen) von Katrin Becker; Wieser Verlag)

Divan bedeutet soviel wie Sammlung und bezeichnet die Grundform der orientalischen Dichtkunst, für einen Roman das Geflecht von Erzählung und Fabel, Aufzeichnungen und Märchen, Wechselrede und Rätselstreit, Briefen und Sprüchen. So ist auch Der östliche Divan ein fliegender Teppich aus 1001 Geschichte. Wir schweben lesenderweise in islamische Lebenswelten und Kultur, ob in Medina, in Bagdad oder an europäischen Schnittpunkten zwischen Okzident und Orient, wie Sarajevo, wo der Autor Karahasan lebt.
Das Buch eröffnet der Briefwechsel eines (authentischen) Dichters, Gelehrten aus der Ferne mit seiner Frau Begzada, ein zärtlich-bedenkendes Gespräch um den Drang nach Wissen und von drängender, um den Einklang mit Natur wissender Liebe, Lebens-Trost und Lehr-Traktat. Darein verwoben und in Aufzeichnungen entfaltet sich das rätselhafte Wirken des listigen wie verschrobenen, ergebenen wie unwirschen Emirs Gazvan, der für Ordnung und Frieden zu sorgen hat: wunderliche Begebnisse auf dem Basar, am Hofe des Wesirs, im Atelier des Meistermalers, in den dunklen Labyrinthen der Stadt, mysteriöse Todes- und Mordfälle unter Fischern, bei den Beduinen, dazwischen Reflexionen über Freundschaft und (Selbst-)Täuschung, Schmeichelei und Schmähung, alles verknüpft sich im unaufhörlichen Fabulieren mit allerlei Zahlenmagie, Linien und Dreiecken, Formenwiederkehr zu einem veritablen Roman-Persianer. Wir lesen und lesen und fliegen zwischen Himmel und Hölle dahin in morgenländisches Leben und Dichten, die seit je auf abendländische Phantasie und Literatur ausstrahlten (Goethes West-Östlicher Divan). Vielleicht aber trägt »Der östliche Divan« nicht nur in den fernen mittleren und nahen Osten, sondern auch in einen ganz nahen, lange abgeblockten, noch so unentdeckten?
Dieser historische Genre-Roman gilt als bedeutender Beitrag der sich in den letzten Jahren ausfächernden, auch islamisch inspirierten, Literatur in Bosnien, Zeichen nicht nur von einem »Land des Haßes« (Ivo Andric), sondern von lebendiger Kulturvielfalt.
Dzevad Karahasan, geboren 1953, lebte und arbeitete als Schriftsteller und Theaterkritiker in Sarajevo. Chefredakteur der Zeitschrift für Literatur und Kritik Izraz (Ausdruck), Dozent an der Akademie für szenische Künste. Neben Essay- und Dramenbüchern publizierte Karahasan bisher drei Prosabücher. Der östliche Divan ist sein erster Roman, 1989 veröffentlicht. Lebt in Göttingen.
 
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